Die Insel der verlorenen Kinder
die etwa in Trudys Alter und vor kurzem aus New York City zugezogen war, wurde hereingerufen und nahm den Plüschbären in den Arm. Sie schloss die Augen und sagte: «Ein Bild formt sich.» Diese Frau trug eine kunstvolle Frisur, schöne Kleider und verwendete ein teures Parfüm.
«Oh, sie lebt», sagte Marsha. In Rhondas Ohren klang ihr Akzent aus der New Yorker Bronx fast wie gespielt. «Sie ist im Wald. Ich sehe hohe Bäume. Felsen. Eine Höhle. Er hat sie in eine Höhle gebracht. Dort schläft sie nachts.»
Shirley versuchte es erneut mit dem Pendel, und diesmal beschrieb das Pendel Kreise über dem Naturschutzpark,nicht weit von dem Ort, wo Ernie entführt worden war. Wie Rhonda wusste, war das genau die Gegend, in der Peter an jenem Tag nach eigener Aussage wandern gewesen war.
Pat rief Crowley an, der zwar nicht an übersinnliche Kräfte und die Fähigkeiten von Rutengängerinnen glaubte, aber dennoch bereit war, bei der Aufstellung eines Suchtrupps aus Polizisten, Bürgern und Park-Rangern zu helfen, um dieses Waldstück am nächsten Tag zu durchkämmen. Ein Dutzend T V-Nachrichtenteams folgten dem Suchtrupp, und alle lokalen Zeitungen hatten Reporter geschickt. Pat rief jeden in der Stadt an, den sie kannte – also praktisch alle Einwohner von Pike’s Crossing –, damit sie bei der Suche halfen.
Ranger und Parkführer erklärten beharrlich, im Naturschutzpark gebe es keine Höhlen. Nach einigem Überlegen sagte Marsha: «Vielleicht ist es ja keine Höhle im eigentlichen Sinne. Es könnte sich auch um eine Felsgruppe handeln, die Schutz vor der Witterung bietet – etwas, das ein kleines Kind Höhle nennen könnte.»
Einen gegabelten Ast in Händen, ging Shirley Bowes durch Dorngestrüpp und über Wanderpfade. Sie ließ sich von der Wünschelrute hierhin und dorthin ziehen. Wenn sie auf dem richtigen Weg war – oder es sich so anfühlte –, zog die Rute nach unten und vibrierte leicht. Rhonda kam es so vor, als führte die Rute die arme alte Dame mit den Gesundheitsschuhen immer im Kreis. Pat folgte ihr unmittelbar auf den Fersen, Trudy Florucci im Schlepptau. Und rundum klickten die Kameraverschlüsse und zuckten die Blitzlichter.
Trudy wirkte ein bisschen ramponiert. Inzwischenwurde gemunkelt, sie sei selbst schuld an Ernies Verschwinden. Was das denn für eine Mutter sei, die ihre sechsjährige Tochter einfach so allein im Auto sitzen lasse? Rhonda wusste, dass Katys Mom Trudy irgendwelche Tabletten gab.
Etwas für die Nerven,
hatte Katy geflüstert. Aber anscheinend nahm Trudy immer mehr von dem Zeug, und als die Suchmannschaft durch den Park marschierte, konnte sie sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Einmal, als Shirley eine kleine Gruppe eine steinige Anhöhe hinaufführte, rutschte Trudy aus und vertrat sich den Fuß. Danach lag sie schluchzend im alten Laub. Pat rief Warren und bat ihn, Trudy zur Basisstation zurückzubringen, die neben dem Dienstgebäude der Park-Ranger lag und aus ein paar Klapptischen mit Kaffee, belegten Broten und Landkarten bestand. Allein wurde Warren mit Trudys Gewicht nicht fertig, und so rief er Rhonda zu Hilfe.
Trudy protestierte kaum, sah Rhonda aber mit zu Schlitzen verengten Augen an und sagte nur: «Du!»
«Ich will Ihnen helfen», gab Rhonda zurück.
«Du willst helfen?» Trudy lachte bitter. «Du hast doch keine Ahnung.»
«Bitte, Miss Florucci, ich …»
«
Mrs.
Florucci», verbesserte Trudy sie mit schwerer Zunge. «Mein Mann, Sal, hat vor einem halben Jahr Selbstmord begangen, nachdem er letztes Jahr den rechten Arm bei einem Unfall verloren hat. Er war Granithauer, und sein Arm ist von einem großen Stein zerquetscht worden. Noch Wochen nach dem Unfall ist Sal nachts aufgewacht und hat geschworen, er könnte seinen Arm fühlen: Es kribbelt so, als wäre er eingeschlafen, sagte er immer. Ich machtedann das Licht an, und er starrte auf seinen Armstumpf, als könnte er seinen eigenen Augen nicht trauen.»
Rhonda nickte und wusste nicht, was sie sagen sollte. Trudy lehnte sich auf sie und humpelte auf einem Bein, Warren als Stütze zu ihrer Rechten.
«Nachts träume ich manchmal, das alles wäre gar nicht passiert und Ernie läge direkt neben mir. Wenn ich dann aufwache und still daliege, spüre ich ganz genau, dass Ernie dicht an mich gekuschelt unter meinem Arm liegt. Ich
rieche
sie, und es ist fast so, als würde ich sie schmecken.» Trudy sah Rhonda an, die Augen jetzt wieder voller Zorn. «Und dann schalte ich das Licht an.»
Als
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