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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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Brunnen tranken. Manchmal gerieten sie in Fallen voller Dornen, die in Tierkadavern steckten und unheilbare Verletzungen auf der Haut verursachten. Andere Male wurden sie von prähistorischen Granaten aus rohem Ochsenleder an Agavenschnüren zerrissen. Aber es konnte genauso sein, dass sie von phosphoreszierenden Salven aus modernen Lee-Enfield Gewehren niedergemäht wurden, die den Aufständischen von den Engländern aus British Honduras geliefert wurden.
    Sie, die Soldaten der mexikanischen Armee, schmorten unter dem bürokratischen Befehl irgendeines abwesenden Generals im untersten Höllenkreis, während ihre Feinde, die Erben der Maya, auf göttliches Geheiß Krieg führten und ihre Schlachtbefehle von einem sprachmächtigen heiligen Kreuz bekamen, das sie in einem befestigten Heiligtum streng bewachten. Sie zu besiegen war völlig aussichtslos. Dennoch erhielt Leutnant Cardona vom Gouverneur des Staates einen Tapferkeits- und Verdienstorden für irgendeine Aktion, die in den Militärberichten nicht genauer bezeichnet ist, oder einfach nur dafür, dass er in Yucatán durchhielt. Es blieb die einzige Auszeichnung, die er im Leben bekam.
    Strafen dagegen hagelte es. Als er nach seiner Rückkehr aus Yucatán im Ersten Bataillon mit Standort in Puebla diente, wurde er aufsässig und disziplinlos und wanderte regelmäßig in den Arrest. In seiner Akte, die voller Missbilligungen und Sanktionen ist, steht: zwei Wochen im Militärgefängnis Santiago Tlatelolco, weil er zwei Tage hintereinander nicht zum Dienst erschien; Stubenarrest im Fahnensaal, weil er ohne Pistole zur Parade kam; weitere zwei Wochen wegen fehlenden Respekts. Es folgten zwei Wochen Arrest, weil er einen Offizier beschimpft und »zum Streit herausgefordert« hatte. Dieser Vorfall brachte ihm außerdem eine Abmahnung ein, die als Vorstufe zum Rauswurf aus der Armee galt. Cardona ließ das kalt.
    Er wurde Alkoholiker, betrank sich hoffnungslos und tat alles, wozu ihm im nüchternen Zustand der Mut fehlte. Er verprügelte den Freund, umarmte den Feind, verging sich gegen den Vorgesetzten, vergewaltigte die Frau des Untergebenen, zerschlug seine Gitarre, kotzte auf seinen Waffenrock und schiss auf sein Schicksal.
    Die sollten jetzt bloß nicht kommen und von ihm verlangen, mit dem Trinken aufzuhören, wo er doch als Kind mit Schnaps aufgezogen worden war. Wenn seine Mutter unter ihren Krämpfen litt und ganz starr wurde, machte der Medizinmann sie betrunken, um die Krankheit auszutreiben. Wenn sein Vater die geflochtenen Strohhüte auf dem Markt verkauft hatte, ging er in San Cristóbal in die erstbeste Schenke und ließ sich mit Schnaps volllaufen. Von oben bis unten besudelt, vergaß er seinen Körper und begab sich auf eine autistische Astralreise in sehr ferne und sehr viel bessere Gefilde. Vier oder fünf Tage später fanden sie ihn, mit einem seligen Lächeln auf den Lippen, in seiner dreckstarrenden Heiligentracht bewusstlos im Straßengraben liegen.
    Selbst Secundino lernte von klein an das bittersüße Glück des Rausches kennen, wenn ihm auf den Festen die Kalebasse mit dem Schnaps gereicht und ein Hut aus Affenfell aufgesetzt wurde.
    »Freu dich, mein Kind«, sagten sie zu ihm. »Heute feiern wir, freu dich und tanze und springe wie ein kleiner Affe.«
    Mit 28 wurde er aus der Armee entlassen. Erwachsen, aber unreif, weder Indio noch Weißer, weder Bauer noch Stadtmensch, der Zivilbevölkerung ebenso entfremdet wie vom Militär verstoßen, hatte Cardona keinen Platz mehr, wo er hingehörte.
    Daher reichte er im Jahr darauf beim Kriegs- und Marineministerium ein Gesuch zur Wiederaufnahme ins Heer ein mit dem Versprechen, sich an die Vorschriften zu halten. Die Antwort war unmissverständlich: »Untauglich«. Weil er seine Untergebenen missbraucht habe, mit seinen Vorgesetzten auf Tuchfühlung gegangen sei, weil er »bei der Truppe jenen Umgang gepflegt habe, der von der Schicht kommt, aus der er stammt, und diesen nicht ablegen will«. Und falls das nicht klar genug war, setzte der unterzeichnende Offizier noch drunter: »Sagen Sie dem Bewerber, er braucht es nicht weiter zu versuchen.«
    Aber Cardona versuchte es weiter. Drei Jahre lang probierte er sein Glück in verschiedenen Berufen: als Angestellter von Herrn Enrique Perret, dem Inhaber einer Buchdruckerei in der Straße Espiritu Santo Nr. 3, in Mexiko-Stadt; als Handlanger von Herrn Steffan, Besitzer eines Schreibwarengeschäfts in Coliseo Viejo Nr. 14, ebendort; als Eintreiber des

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