Die Insel der Verlorenen - Roman
glückliche Kindheit wachruft.
Am Tag der Ankunft von El Demócrata erhielt Ramón einen Brief von seiner Mutter Doña Carlota. Er war datiert auf Orizaba, im Dezember 1910, kam also mit einem vollen Jahr Verspätung an. Bevor er irgendetwas anderes tat, schloss sich Ramón ein und las ihn.
Er war ungewöhnlich ausführlich und lang und quoll über von Optimismus und guter Laune. Die Señora erzählte dem Sohn von der Hundertjahrfeier zur mexikanischen Unabhängigkeit, die im September 1910 in der Hauptstadt begangen worden war. Durch die freundschaftlichen Verbindungen, die sie immer noch zu Regierungskreisen unterhielt, war auch sie dazu eingeladen worden. Die Hundertjahrfeier war mit dem Geburtstag von General Porfirio Díaz zusammengefallen, und der alte, knapp achtzigjährige Präsident hatte beschlossen, für das Doppeljubiläum das Geld mit vollen Händen aus dem Fenster zu werfen. Die Feierlichkeiten sollten die prachtvollsten werden, die das Land je erlebt hatte: ein Monat Brot und Spiele für alle.
Wenn es Leute gab, die ihn mit Aufständen und Revolten aus dem Amt vertreiben wollten, dann würde er ihnen höchstpersönlich zeigen, wer regierte und wie fest die Hand war, mit der er es tat. Wenn es Leute gab, die behaupteten, er sei alt und verbraucht und würde bei jeder Kleinigkeit losheulen wie ein Baby, er sei taub wie eine Friedhofsmauer und eigensinnig wie eine Schwangere, dass ihn niemand mehr ertrage, weil er ein Wüterich sei und sein Gedächtnis so nachließ, dass er sogar seinen zweiten Nachnamen vergaß, dann würde Porfirio Díaz ihnen zeigen, wer die Hosen anhatte. All die Verleumder und die Revoluzzer und ihre Anhänger würden schon merken, wer der einzig wahre »Patriot ohnegleichen« war, »Friedensfürst«, »Staatsmann von Welt«, »Schöpfer von Reichtum«, ihr »Vater der Nation«. Na warte, das würden die schon merken.
Doña Carlota war geblendet, als sie ihn auf den Balkon des Regierungspalastes am Zócalo treten sah, die uniformierte Brust mit Hunderten von Orden dekoriert wie ein Weihnachtsbaum oder ein Sternenhimmel.
»Man traut seinen eigenen Augen kaum«, schrieb sie in dem Brief an ihren Sohn. »Je älter der Greis wird, desto stattlicher und weißer wird er. Ich kann mich noch an seine Jugend erinnern, als er aussah, wie das, was er ist, ein mixtekischer Indio. Aber jetzt sieht er aus wie ein Gentleman. Es ist erstaunlich, wie die Leute durch Macht und Geld weiß werden.«
Doña Carlota hatte den Hut mit den langen schwarzen Federn aufgesetzt, um der großen allegorischen Prozession sämtlicher Persönlichkeiten – aus Vergangenheit und Gegenwart – der mexikanischen Geschichte beizuwohnen, wenn sie über den Paseo de la Reforma defilierten. An der Spitze des Zuges ging ein halb nackter Moctezuma, mit mehr Federn geschmückt als Arnauds Witwe, das Schlusslicht bildete eine verjüngte, stilisierte Ausgabe von Don Porfirio.
Hinter der Maskerade setzte sich das Gefolge aus geladenen Gästen in Gang, erst die aus dem Ausland, dann die aus der Provinz Angereisten. Unter diesen stolzierte mit geschwellter Brust die Matrone Carlota aus Orizaba. Mit offenem Mund bestaunte sie die mit Blumenbögen, künstlichen Lichtern, Flaggen und goldenen Hängeornamenten aus Leder geschmückte Hauptstadt. Sie sah überall nur schöne Gesichter und edle Kleidung, bis ihr auffiel, dass die Wachen das gemeine Volk aus den Straßen vertrieben hatten: die Leprakranken, die Syphilitiker, die Prostituierten und die Krüppel.
Der große Galatanzabend, zu dem sie auch eingeladen war, erwies sich als phantastischer und prachtvoller, als ihre Vorstellungskraft zu träumen gewagt hatte. Da stand sie im Fürstenpalast – das artige, arglose Mädchen wie ein fülliges, in die Jahre gekommenes Aschenputtel – und bestaunte die Musik des hundertfünfzigköpfigen Orchesters, die zwanzig Güterwagen französischen Champagner, der von fünfhundert Livrierten ausgeschenkt wurde, die dreißigtausend funkelnden Lichter, die mit unzähligen Rosen geschmückten Decken der großen Säle.
»EsisteinJammer,dassdunichthierbist,umdiesegroßartigenStundenmiterlebenzukönnen«,schriebsieanRamón.»HieristderPlatzfüreinenjungenOffizierwiedich.HierstündedireineglänzendeZukunftunterGeneralDíazoffen.Selbstwennihrfindet,ichwürdemicheinmischen,möchteichdirdochnocheinmalsagen,wiebittermirderGedankeist,dassdudeinLebenvölligsinnlosaufjenerInselbegräbst.«
Mit dieser Bemerkung drückte Doña Carlota die Taste, die in
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