Die Insel der Verlorenen - Roman
Leben verfügen und verlangen, dass ihr hierbleibt.«
Damit schloss er und gab ihnen eine Weile Bedenkzeit, damit sie sich mit ihren Frauen beraten konnten. Sie gingen auseinander. Jeder suchte sich mit seiner Familie eine andere Stelle. Ab und zu wechselte einer von einer Gruppe zu einer anderen. Man hörte sie flüstern, lachen, weinen, diskutieren. Einige kamen vor dem Signal zum Appell zum Platz zurück. Als sie wieder in Reih und Glied angetreten waren, rief Arnaud die Namen einzeln auf, damit jeder seine Entscheidung bekanntgab.
»Soldat Rodríguez, Silverio.«
»Soldat Juárez, Dionisio.«
»Soldat Pérez, Arnulfo.«
»Soldat Mejía, Constancio.«
»Soldat Almazán, Faustino.«
»Soldat Carvajal, Pedro.«
»Soldat Álvarez, Victoriano.«
»Gefreiter Lara, Felipe.«
»Feldwebel Irra, Agustín.«
»Leutnant Cardona, Secundino.«
Einer nach dem anderen trat einen Schritt vor und gab die Antwort. Nachdem der Letzte gesprochen hatte, ließ Arnaud sie wegtreten.
Um sechzehn Uhr fünfzig, fünf Minuten, bevor die vom Kapitän eingeräumte Frist verstrichen war, überbrachte ein Ruderboot der Cleveland eine Nachricht.
»Kapitän Williams: Im Namen der mexikanischen Streitkräfte, meiner Garnison und in meinem eigenen bedanke ich mich für Ihre unschätzbare Hilfeleistung. Da wir uns derzeit im Krieg befinden, erachte ich Ihr Verhalten als ein würdiges Beispiel von Großmut zwischen verfeindeten Nationen. Ihr freundliches Angebot, uns nach Acapulco zurückzuführen, schlagen wir aus. Meine Männer und ich werden mit unseren Frauen und Kindern so lange hierblieben, bis wir Befehl von oben bekommen, das Gegenteil zu tun. Unterzeichnet Kapitän Ramón Arnaud Vignon, Gouverneur der Insel Clipperton, Territorium der souveränen Republik Mexiko. Clipperton, den 25. Juni 1914.«
Arnaud saß auf dem gebogenen Stamm einer Palme und wusste immer noch nicht, was das Richtige war – zu gehen oder zu bleiben. Aber es war ihm inzwischen einerlei. Was auch immer das Richtige sein mochte, er jedenfalls hatte den besten Tag seines Lebens erlebt: dieser Tag hatte ihn zu einem würdigen, denkwürdigen Mann geadelt, und sein Reich war nicht mehr von dieser Welt.
Von der Insel aus sah er, wie sich die Cleveland entfernte und empfand Mitleid mit Kapitän Williams und dessen kleinem künstlichen Wohlstand aus Kölnischwasser, Veloursmöbeln und Cognac-Gläsern. Kapitän Williams in der armseligen Sicherheit seines mächtigen Kreuzers. Ramón dachte, dass er ihn nicht beneidete – oder jedenfalls, dass er ihn nicht sehr beneidete – , denn der wahre Prinz, der Dandy, der Bringer, das war er, Ramón Arnaud. Sein Entschluss dazubleiben verschaffte ihm Genugtuung, verlieh ihm das Gefühl von Ganzheit, und Größe, und die Treue seiner Leute – Alicia, Cardona und die Männer – machte ihn zum Giganten. Nicht jedem bot das Schicksal eine Chance für alles oder nichts, eine Gelegenheit aufs Ganze zu gehen, sich mit jeder einzelnen Faser seines Körpers der Mutprobe zu stellen und sein Leben auf Messers Schneide zu legen – als Ehrensache und aus Tapferkeit.
Ihm schon. Und diesmal hatte er, Ramón Arnaud, Wort gehalten. Er war der Prinz, der Krieger, der Dandy, der Haudegen. Damit war die alte Schuld seiner Fahnenflucht endlich von ihm abgewaschen, seine offene Rechnung beim Schicksal war endlich beglichen, er war auf der Höhe seines eigenen Stolzes angelangt – endlich. Die Havanna von vorhin, die Flor de Lobeto, war das Einzige, was ihm in diesem Moment fehlte, um den Himmel zu berühren.
Als die USS Cleveland am Horizont verschwand, war Ramón Arnaud mit seinem Leben im Reinen.
Clipperton
– 1915 –
Ramón Arnaud hatte während der Siesta einen Albtraum: Er sah, wie er Mäuse aß.
Es war die Zeit, in der es auf Clipperton – bis auf das Überleben natürlich – nicht viel zu tun gab, so dass ihnen reichlich Zeit zum Schlafen blieb. Seit dem Besuch der Cleveland , dem letzten Schiff, das zur Insel gekommen war, war fast ein Jahr verstrichen, und die Leute hatten alles vergessen, sogar das Warten. Sie ertrugen ihre Lage als Schiffbrüchige in christlicher Fügsamkeit, allerdings nahm diese die Züge eines heidnischen Hedonismus an, je mehr sie die Vorteile der Isolation, den Reiz der Einsamkeit und die tausend Möglichkeiten des Müßiggangs für sich entdeckten.
Zu diesen gehörte die tiefe, genüssliche Versenkung in eine ausgedehnte, ungestörte Siesta. Nach der Mittagsverpflegung legten sich Männer, Frauen
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