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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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violett und das Mädchen stand als Letzte allein am Kai. Sie vernahm die Worte des Deutschen. Um sich von ihm zu verabschieden, löste sie das Tuch von ihrem Kopf. Das Haar fiel ihr bis zum Boden, es schimmerte in der Nachmittagssonne und wehte, einer schwarzen Fahne gleich, sanft im Wind.
    Indes befahl Ramón Arnaud, dass die Truppe ihre Arbeit unterbrach und auf dem Platz in Aufstellung ging – dort, wo der einstige Gemüsegarten ein kahles Gelände hinterlassen hatte – , und zwar in Gefechtsanzug und mit Waffen. Pedro Carvajal, der blutjunge Trompeter, blies zum Appell und die Männer eilten herbei.
    »Formation! Stillgestanden! Aaaachtung! Präsentiert!«, schrie Cardona. Arnaud hatte sich neben ihn gestellt und schaute zu.
    Da standen sie auf dieser ungastlichen, rauen Brache, die zehn Männer seiner Garnison. Wer Sandalen anhatte, dem fehlte das Hemd, wer ein Gewehr besaß, dem fehlte der Säbel, wer einen Patronengürtel umhatte, trug ihn ohne Munition. Ihnen waren nur die Überbleibsel des Orkans geblieben. Die Frauen mit den Kindern auf dem Arm standen im Halbkreis um sie herum und schauten zu. Sie gaben das zerlumpte Publikum der zerlumpten Vorstellung ab.
    »Aaaachtung! Präsentiert!«
    Sie sangen die Nationalhymne und hissten ihre neue Flagge, die von den Nonnen. Als sie hochgezogen wurde, sah Arnaud, dass sie inzwischen genauso fadenscheinig und ausgebleicht war wie die davor. Der rote und der grüne Streifen waren verblichen, so dass das Mittelweiß bis zu den Kanten reichte. Ohne Adler und Schlange wäre sie ein in der Sonne aufgespanntes Laken, nicht mehr und nicht weniger.
    Sie ist mit uns gekommen und gegangen, dachte Ramón und betrachtete seine Leute. Wir sehen aus wie Gespenster, und obendrein gehören wir zu einer Armee, die es gar nicht mehr gibt. Mit welchen Argumenten sollte er sie davon überzeugen, weiter auf diesem entlegenen Flecken auszuharren? Und, schlimmer noch: Mit welchen Argumenten sollte er sich selbst davon überzeugen? Er vergegenwärtigte sich die Qualen seiner Gefängnisnächte, seine Reue an der schwarzen Mauer von Tlatelolco, und je deutlicher er den Geschmack der Demütigung im Mund spürte, desto mehr Argumente fielen ihm ein.
    Er begann seine Ansprache kleinlaut. Auf die Niederlage der Bundesarmee ging er nicht weiter ein, um seine Soldaten nicht zu demoralisieren, und auf den Weltkrieg kam er erst gar nicht zu sprechen, um sie nicht zu verunsichern. Er kam in Fahrt, als er ihnen von Auslandsinvasionen und vom nationalen Widerstand in der Geschichte erzählte, er fing Feuer und wurde lauter, als er ihnen von den Ereignissen in Veracruz berichtete, ihm bebte die Stimme, als er von der Verteidigung Clippertons sprach, und als er sich irgendwann umschaute, da rasten die Leute vor Gefühl und weinten vor Wut.
    »Zu Ehren der Gefallenen im Kampf gegen den nordamerikanischen Besatzer«, so verkündete er auf dem Höhepunkt seiner kurzen Rede, »werden wir jetzt die von Präsident Wilson geforderte Salve von einundzwanzig Gewehrschüssen abfeuern. Das tun wir aber als Salut für unsere eigene Flagge, zum Teufel. Für die mexikanische Flagge!«
    Cardona trat auf ihn zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
    »Einundzwanzig Salven, das ist eine Menge, Mann. Danach ist das Arsenal leer … «
    »Na gut, dann zehn.«
    »Fünf?«
    »Es werden nur fünf Salven abgefeuert werden«, brüllte Arnaud. »Aber volle Kanone, damit sie bis nach Washington zu hören sind!«
    »Und bis nach Paris!«, die Provokation konnte sich Cardona nicht verkneifen, weil er die Keilerei mit den Franzosen noch gut im Gedächtnis hatte.
    Mehr oder weniger gleichzeitig wurden zehn Gewehre fünf Mal abgefeuert. Mehr oder weniger gleichzeitig dröhnten fünfzig Schüsse, worauf der Qualm des Pulvers den Himmel verdüsterte. Er stach in der Nase und brannte in den Augen, und am Ende liefen allen – teils deshalb, teils aus Rührung – die Tränen über die Wangen, auch Frauen und Kindern.
    Die habe ich jedenfalls auf meiner Seite, dachte Ramón. Er legte ihnen die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten dar, auf der Insel zu überleben, die militärische und die politische Wichtigkeit, dazubleiben, die persönlichen Vorteile, zu gehen und richtete ihnen das Angebot des Kapitäns aus, alle Soldaten mit ihren Familien auf der Cleveland nach Acapulco zurückzubringen.
    »Wer gehen will, hat hiermit meine ausdrückliche Genehmigung dazu«, verkündete er zum Schluss. »In dieser ungewissen Lage kann ich nicht über euer

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