Die Insel des Magiers
tastete mit den Händen, bis ich die harte Wölbung ihrer atmenden Brust fand. Halb geweckt schlang sie die Arme um mich und zog mich an sich, so daß mein Kopf in der Mulde an ihrem Halsansatz zu liegen kam. Die ausgeprägte Geruchsmischung, die für meine Mutter typisch war, hüllte mich ein, und ich spürte, wie die Furcht mich verließ. Manchmal sang sie mir sogar leise etwas vor, bevor sie wieder einschlief, so leise, daß ich die verschluckten Töne über dem Toben des Windes kaum hören konnte.
Trotz ihres Wahnsinns waren die Wünsche meiner Mutter recht klar, denke ich. Sie wollte meine Liebe haben oder wenigstens meine Kameradschaft. Sie wollte meine Hilfe haben, als sie alt wurde und nicht mehr allein zurechtkam. Ich glaube nicht, daß mein Glück ihr gleichgültig war, aber sie hatte alles getan, was dafür getan werden konnte: Sie hatte mir beigebracht, wie man überlebt, sie hatte mich ernährt und mich großgezogen. Sie konnte mir keine Freunde und keine Gespielin besorgen, und sie konnte mit ihrer Gegenwart meine Einsamkeit nicht lindern. Ich frage mich, ob sie irgend etwas anders gemacht hätte, wenn ihr klar gewesen wäre, wie bald schon ich vollständig allein sein sollte?
Prosperos Ziele jedoch verstehe ich nach wie vor nicht. Er zähmte mich, gewiß, wie einen Hund, der ihm das Lager bewachen sollte. Aber wenn er nichts weiter wollte als einen Köter, warum lehrte er mich dann sprechen und sogar ein wenig lesen? Wenn es nötig war, daß ich ihn verstand, damit ich ein besserer Sklave sein konnte, warum erklärte er mir dann den Lauf der Sterne? Interessierten ihn die Grenzen meiner Halbmenschlichkeit? War ich bloß ein Experiment, ähnlich seinem alchimistischen Treiben, das seine Aufmerksamkeit in Mailand derart in Anspruch genommen hatte, daß er blind war für die Intrigen seines Bruders?
Um die Mitte des ersten Jahres nach eurer Ankunft kam ich jeden Tag ins Lager, als ob es wieder mein Zuhause wäre, obwohl mich meine Scheu immer noch daran hinderte, in unmittelbarer Nähe von Leuten zu schlafen, die für mich erschreckend unbegreifliche Fremde waren und blieben. Und jeden Tag warf Prospero mir außer den Fleischstücken und den kleinen Freundlichkeiten, mit denen er mich immer tiefer in sein Netz verstrickte, auch noch Wissensbrocken hin.
Ich hatte mittlerweile verstanden, daß »Miranda« eine Lautfolge war, die sich eigens auf dich bezog, auch wenn es noch etwas länger dauerte, bis mir der Begriff eines Namens in den Kopf ging. Ich wußte es nicht, aber mit diesem ersten Wort lernte ich sowohl Latein als auch Mailändisch, denn in beiden Sprachen bedeutet dein Name etwas Bewundernswertes, Staunenerregendes. Trotz meiner Schüchternheit wurde ich von einem Gefühl bedrängt, das zwar zu unausgebildet war, um Liebe genannt zu werden, aber auch zu allumfassend für bloßes Interesse. So sehr Prosperos Aufmerksamkeiten mich überwältigten, schweifte mein Interesse an dem, was er mir zeigte, doch ab, wenn du zu weit entfernt warst. Ich wollte mit dir zusammen sein, und nur wenn du in der Nähe warst, konnte ich mich ganz seinen Belehrungen hingeben.
Zuerst dachte ich, er hieße »Vater«, da du ihn so nanntest, doch als ich ihn bei meinen ersten Versuchen so ansprach, lachte er – weder gütig noch ungehalten – und korrigierte mich, indem er die Rechte auf seine Brust legte. Prospero, sagte er. Später, als ich Mannesgröße und Manneskraft erreicht hatte, wurde daraus »Herr«.
Das war eine wunderbare Zeit, dieses erste Jahr. Obwohl ich das Wort nicht kannte und die Idee nur mit Mühe erfaßte, fühlte ich mich als Teil einer Familie. Ich vermißte meine Mutter, und mir war immer noch öfter unbehaglich dabei, unter Wesen zu sein, die mir so sehr glichen und die doch so anders waren als ich, aber ich fühlte mich auch an etwas angeschlossen, das mir mein Leben lang gefehlt hatte. Meine Mutter war mir zu nahe gewesen, zu sehr ein Teil von mir – und ich viel zu sehr ein Teil von ihr –, um mir wirklich eine Gefährtin zu sein, auch wenn ihr Verlust ein furchtbarer Schlag war. Und verglichen mit dir und deinem Vater machte sie gar nichts: Jeder Tag war bei ihr das Ebenbild des vorhergegangenen. Doch dank Prosperos eigentümlichen Interessen und deinen viel fröhlicheren Erkundungen, Miranda, verhieß auf einmal jeder Tag neue Überraschungen.
Eines Abends schlief ich neben der Hütte ein. Du und ich, wir hatten einen ganzen Nachmittag damit zugebracht, Krebse auf den hohen Teil des
Weitere Kostenlose Bücher