Die Insel des Magiers
lassen, daß ich es sogar im Kerzenlicht erkennen kann, so waren es die Gedanken eines Unschuldigen. Wie auch mein Herz das Herz eines Unschuldigen war.
Kannst du daran zweifeln? Kann es ein denkendes Geschöpf auf Erden gegeben haben, das weniger von niedriger Wollust befleckt war als ich? In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie eine Frau aus Fleisch und Blut unbekleidet gesehen. Das einzige andere weibliche Wesen, das ich gekannt hatte, war meine dürre, knorrige Mutter gewesen, und selbst sie hatte sich niemals vor mir ausgezogen. Ich habe sogar meine Zweifel, daß sie sich vom Augenblick ihrer Ankunft auf der Insel an jemals ihrer Hüllen entledigte.
Und da standest du nun, bekleidet mit dem Gewand, das dein Gott dir bei deiner Geburt verliehen hatte – nein, das ist nicht wahr, denn du warst im Begriff, eine Frau zu werden. Jedenfalls standest du da, wie die Natur dich gewollt hatte. Und die Natur hatte ein wunderbares Werk vollbracht, als sie dich schuf, Miranda. Deine Nacktheit war wie eine Kerze in einem düsteren Zimmer. Mögen alle Geister meiner Insel mich totschlagen, falls ich lüge: Ich hätte nicht weggucken können, selbst wenn mein Leben auf dem Spiel gestanden hätte. Du warst so schön, daß es weh tat.
Du standest mit dem Rücken zu mir in dem fließenden, glitzernden Vorhang des Wasserfalls. Du hattest deine zerzausten Haare über dem Kopf zusammengerafft und das Gesicht zum herabfallenden Wasser aufgehoben. Du hattest mit Singen aufgehört, um zu trinken. So eine vollkommene, fraglose Freiheit sah ich da, so eine Freude am Gefühl des über dich strömenden kalten Wassers! Dieses Bild wird mich bis zu meinem letzten Atemzug nicht loslassen. Wer dereinst vor mir stehen wird, wenn ich mein Leben aushauche, wird es in meinen Augen gespiegelt sehen.
In den Büchern deines Vaters hatte ich Göttinnen und berühmte Schönheiten gesehen und beim Betrachten eine starke Anziehung und innere Spannung gefühlt, so stark, daß ich mir angewöhnt hatte, auf diese Holzschnitte nur, wenn ich allein war, verstohlene Blicke zu werfen. Ich verstand weder ihren Reiz noch meine Scham, und dennoch empfand ich beides überdeutlich. Doch wie ein paar gestochene Linien als Darstellung einer Wolke auf einem Stück Pergament sich zur ständig bewegten und sich wandelnden Herrlichkeit des echten Firmaments verhalten, so verhielten sich die blassen Gestalten, die mich derart mit Neugier erfüllt hatten, zu deiner leibhaftigen Wirklichkeit, Miranda.
Jede Linie an dir, von deinem langen Rücken über das sanft gerundete Gesäß hinunter zu den Beinen, kräftig und anmutig wie die Läufe eines jungen Rehs, die zarte Fügung deiner Wirbelsäule und der unter der Haut hin- und hergehenden Schulterblätter, alles, jeder Zoll von dir, überströmt von funkelndem Wasser, als wäre es eine Rüstung aus purem Sonnenlicht… der Anblick überwältigte mich und veränderte mich für alle Zeit. Mein Atem beschleunigte sich, und selbst über das stetige Rauschen des Wassers hinweg klang er laut und rauh in meinen Ohren. Ich wollte dich haben, wollte dich mehr als alles, was ich jemals begehrt hatte, obwohl ich keine Ahnung hatte, welche Form dieses Haben annehmen konnte. Doch so mächtig war dieses Begehren, daß ich in meiner Verwirrung einen Augenblick lang der Kannibale wurde, der ich nach dem Vorurteil deines Vaters war: Ich wollte dich und deine Schönheit besitzen, wollte es mit solcher Leidenschaft, daß ich mir beinahe vorstellen konnte, dich zu verschlingen.
Da schoß auf einmal ein buntes Etwas hinter dem Wasserfall hervor, als ob die wirr durch meinen Kopf jagenden Gedanken sichtbare Gestalt angenommen hätten, flog aufgeregt hin und her und sauste dann über die Lichtung davon. Es war ein leuchtend blauer Vogel, in meinen Augen derselbe, der damals, als ich das Tal entdeckte, auf der alten Fichte gesessen und mich beobachtet hatte. Sein jäher Flug oder seine auffällige Färbung erregten deine Aufmerksamkeit. Du nahmst die Hände herunter, so daß dir die Haare frei über die Schultern fielen, und drehtest dich nach ihm um.
Erschrocken warf ich mich am Rand der Steilwand nieder, weil ich um keinen Preis von dir gesehen werden wollte. Warum ich mir wie ein Verbrecher vorkam, wo wir doch erst wenige Jahre zuvor in unschuldiger Nacktheit und Halbnacktheit zusammen im Meer geplanscht hatten, wußte ich nicht, aber irgendwie sagte mir mein Hunger, daß etwas anders geworden war. Ich preßte mich flach auf den
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