Die Insel des Mondes
ihren rechten Augenhintergrund in Stücke, während in ihrem Hinterkopf jemand auf einen stark vibrierenden Gong schlug, dessen Töne sich wellenartig in ihrem Kopf ausbreiteten. Dazu war ihr so übel wie in ihrer Schwangerschaft. Nirina, wo war Nirina? Sie tastete rechts und links neben sich, nichts. Sonst hatte sie stets gerochen, ob er in ihrer Nähe war, aber nichts drang durch ihre immer noch geschwollene Nase. Sie zwang sich, die Augen zu öffnen, konnte Nirina aber nirgends entdecken, und dann erst fiel ihr ein, dass man ihn ihr vor dem Fest abgenommen hatte, er war sicher noch bei Noria. Erleichtert wollte sie ihre Augen wieder schließen, als sie etwas anderes in ihrer Nähe entdeckte.
Nicht weit von ihr lag Villeneuve, ihr Herz übernahm den hämmernden Gong aus ihrem Kopf. Verzweifelt versuchte sie sich zu erinnern, was passiert war. Waren sie sich nähergekommen?
Sie betrachtete ihn, konzentrierte sich auf seinen Mund, leckte unwillkürlich über ihre trockenen Lippen. Hatten sie sich geküsst? Sie wusste es nicht, jedenfalls nicht sicher.
Wäre es denn so schlimm?, meldete sich ihre innere Stimme.
Ja, ja, ja, wollte Paula sie anschreien, aber schon allein ein einziges »Ja« zu denken verschlimmerte die Hölle in ihrem Kopf. Villeneuve lag vollständig angezogen in ihrem Zelt, aber nicht, wie sie erst jetzt bemerkte, unter ihrem Moskito netz. Sie spähte an sich herunter und entdeckte, dass sie immer noch den leidlich sauberen Rock und die Bluse von gestern Abend trug.
Villeneuve sah im Schlaf verletzbar wie ein Kind aus, seine blassroten Lippen waren zwar leicht geöffnet, aber er atmete völlig geräuschlos. Er lag auf der Seite, die Knie leicht angezogen, den Kopf auf seinen Ellenbogen gebettet, die braunen Haare lagen ausgebreitet um seinen Kopf herum.
Während sie ihn betrachtete, versuchte sie weiter, sich zu erinnern, was ihr aber wegen des Dröhnens in ihrem Schädel einfach nicht gelingen wollte.
Kuckuck-Kuckuck, ging es ihr durch den Kopf, jemand hatte etwas von einem Kuckuck erzählt. Nein, der war nur in dem Brief von Mathilde vorgekommen, oder? Angestrengt dachte sie nach und glaubte Norias Stimme zu hören, die ein madagassisches Märchen über den Kuckuck erzählt hatte. Der Sohn des Gottes Zanahary war gestorben, und Zanahary hatte alle Lebewesen der Erde zusammengerufen, um Trauerlieder für seinen Sohn zu singen. Doch nach einer Stunde hörten viele schon auf, und nach drei Stunden waren alle heiser – alle bis auf den Kuckuck, der unverdrossen weitersang. Tag und Nacht, so lange, bis ihm Zanahary Einhalt gebot und ihm als Belohnung für diese Anstrengung versprach, dass seine Eier in Zukunft von anderen Vögeln ausgebrütet werden würden.
Aber wie war man überhaupt auf den Kuckuck gekom men? Sie hatte doch nicht etwa alles ausgeplaudert, was Mathilde geschrieben hatte? Warum konnte sie sich an dieses Märchen, nicht aber an sehr viel existenziellere Vorfälle erinnern, wie zum Beispiel einen Kuss? Vielleicht weil es nichts gab, woran sie sich erinnern müsste.
Paula richtete sich auf, scharfe Messerstiche schnitten ihr rechtes Auge in flackernde Streifen, und ihre Übelkeit verstärkte sich. Sie sollte etwas trinken und Ingwer kauen, das half sicher. Sie schlüpfte aus dem Moskitonetz.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Villeneuve und klang aufreizend munter.
Paula schenkte sich eine Antwort und ging nach draußen, wo die Sonne sie beinahe umwarf. Sie hielt die Hände vor die Augen und stöhnte.
Jemand tippte ihr auf die Schulter, sie drehte sich um. Es war Morten, der ihr den Brief ihrer Großmutter und das Rezeptbuch überreichte und behauptete, dass sie das alles gestern Abend verloren hätte.
Paula war so übel, dass sie nicht in der Lage war, ihn nach Einzelheiten zu fragen, sie nahm es und trug es zurück ins Zelt, wo sie mit Villeneuve zusammenprallte.
Er nahm ihr Mathildes Sachen ab, und Paula war zu elend zumute, um zu protestieren. Aber es entging ihr nicht, wie neugierig er alles betrachtete. »Ist das der Grund, warum wir ins Wasser gesprungen sind?«, fragte er.
»Ja.« Zu mehr war Paula nicht imstande.
»Und hat es sich wenigstens gelohnt?«
Paula legte sich wieder auf ihre Matte und gähnte. »Wenn ich das wüsste. Villeneuve, sagen Sie, haben wir über den Kuckuck gesprochen?«
Obwohl sie ihre Augen geschlossen hielt, konnte sie hören, dass er lächelte. »Oh, Sie haben über vieles gesprochen, über Ihre Großmutter Josefa, und wie Ihr Bruder Ihnen
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