Die Insel des Mondes
weißen Sand fallen. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Paula rang nach Luft und lächelte ihn an. Dann betrachtete sie wieder seine Waden. »Oh, es geht mir ganz hervorragend. Ich habe gerade ein böses Gespenst besiegt. Es wird sicher wiederkommen, aber ich glaube, es wird nie mehr diese Macht über mich haben wie früher.« Jetzt zog sie ihre Schuhe und Strümpfe aus und betrachtete ihre nur langsam verheilenden Wunden an den Füßen.
»Da beneide ich Sie.«
»Ich könnte Ihnen ja auch meine Waden zeigen …« Paula hielt abrupt inne und merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.
Villeneuve wirkte verblüfft, sah auf seine Waden hinunter, dann stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht.
»Das ist ein sehr großzügiges Angebot, das ich gerne annehme.«
Paula wurde sehr heiß. »Sie haben mich missverstanden.«
»Machen Sie etwa einen Rückzieher?«
Rückzieher, das erinnerte Paula plötzlich an Lázló, und sie wurde schlagartig wieder ernst. Er hatte sie auch deshalb kritisiert. »Vermissen Sie Lázló?«
»Seine Waden waren jedenfalls perfekt.« Villeneuve klang enttäuscht.
Wahrscheinlich dachte er, sie wollte nur das Thema wechseln.
»Das stimmt, alles an Lázló war perfekt, ich habe ihn im Fluss schwimmen gesehen. Ich verstehe nicht, wie so ein Hüne an ein paar Spinnenbissen sterben kann.« Paula sah ihn vor sich, in seinem Sarg aus goldenen Gespinsten.
»Ich vermisse ihn sogar sehr.« Villeneuve räusperte sich und setzte sich jetzt bequem neben Paula in den Sand und legte Nirina auf seinen Schoß. »Lázló war der Bruder meiner Frau. Er hat mich immer und immer wieder angefleht, mich mehr um meine Frau Maria und meinen Sohn Zoltan zu kümmern, aber ich habe ihm nicht zugehört. Ich habe ihn verachtet, weil er so ausschweifend gelebt hat, weil er die Frauen geliebt hat und das Spielen, Feiern und Trinken. Ratschläge von so einem Tunichtgut, das war unter meiner Würde, und dann war es zu spät.«
»Und seit wann sehen Sie das anders?«
Villeneuve malte mit seinen Fingern etwas in den Sand. Paula beobachtete ihn gespannt, und flüchtig schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass das hier fast so etwas wie eine romantische Situation war. Wenn man von Nirina absah, dann saßen sie beide allein und nahe beieinander am Strand. Was sollte das werden, was er da zeichnete, ein Gesicht, ein Herz, ein Buchstabe?
Es wurde ein Thermometer. Wie außerordentlich romantisch.
»Was für ein hübsches Bild«, sagte Paula schließlich lahm, weil ihr das Schweigen langsam unheimlich wurde. »Warum haben Sie das gemalt?«
Villeneuve grinste spöttisch. »Weil mich das mehr interessiert hat als meine Frau.«
»Sie waren in ein Thermometer verliebt?«
Villeneuve lachte böse auf. »Man könnte es in der Tat so sagen. Ich hatte in Paris den deutschen Arzt Karl Reinhold August Wunderlich kennengelernt und war von ihm und seiner Arbeit fasziniert, bin ihm nach Deutschland gefolgt und habe mit ihm zusammen an klinischen Untersuchungen zum Thema Fieber gearbeitet. Meine Frau Maria, eine Ungarin aus Siebenbürgen, wollte nicht mit mir nach Leipzig ziehen, obwohl sie besser Deutsch sprechen konnte als Französisch. Sie hatte sich gerade an Paris gewöhnt und wollte nicht schon wieder neu anfangen, schließlich war sie schon wegen mir von Ungarn nach Paris gekommen. Also habe ich meine zarte Maria kurzerhand in Paris zurückgelassen, was nicht nur unverantwortlich, sondern auch in höchstem Maße selbstsüchtig von mir war. Aber mir gefiel der Gedanke, mit einem Genie zu arbeiten, mehr als alles andere. Unsere Arbeit war wichtig für die Welt, für die Geschichte der Medizin! Ich besuchte Maria und meinen Sohn Zoltan immer seltener, und wenn wir uns sahen, stritten wir nur. Dass Maria so stark abgenommen hatte, schob ich – ein approbierter Arzt – darauf, dass die beiden nur nicht genug zu sich nahmen, um mich für meine ständige Abwesenheit zu bestrafen. Dabei hätte ich erkennen müssen, dass sie neben ihrem Kummer an Schwindsucht litten und mich sehr viel mehr gebraucht hätten als Professor Wunderlich. Aber ich war blind.«
Er wischte das Thermometer mit der Hand weg und streichelte Nirina.
»Aber irgendwann haben Sie die Krankheit doch bemerkt, oder?« Paula erinnerte sich daran, wie er sich danach erkundigt hatte, ob sie auch genug aß.
»Ja, aber es war zu spät. Sie war nicht nur krank, sondern auch so entsetzlich einsam, dass sie sich von mir abgewandt und einem Scharlatan zugewandt hatte. Lázló
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