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Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages

Titel: Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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blauviolett, gefolgt von einigen Jungen im Gänsemarsch, und immer wenn er am Ende seines kurzen Weges angekommen war, krächzte er ärgerlich, versuchte mit dem Schnabel zu zerhacken, was er für ein Rankengeflecht hielt, wich dann zurück und machte kehrt mit seiner Brut, die nicht mehr wusste, ob sie nun vor oder hinter ihm gehen sollte.
    Roberto war hin- und hergerissen zwischen seiner Erregung über das Entdeckte, seinem Mitleid mit den Gefangenen und seinem Wunsch, die Käfige zu öffnen und den Raum erfüllt zu sehen von jenen Herolden einer Armee der Luft, um sie der Belagerung zu entheben, zu welcher die Daphne, ihrerseits belagert von ihren Artgenossen draußen, sie zwang. Er meinte, sie müssten hungrig sein, und sah, dass in den Käfigen nur noch Krümel lagen und dass die Näpfe und Schüsseln, in denen Wasser hätte sein müssen, leer waren. Doch neben den Käfigen entdeckte er Säcke mit Körnern und Streifen von getrocknetem Fisch, bereitgelegt von denen, die offensichtlich auch diese Beute nach Europa zubringen gedachten, denn ein Schiff fährt nicht in die Südsee zu den Antipoden, ohne Zeugnisse jener Welten an die Höfe oder zu den Akademien zu bringen.
    Weiter vorn fand Roberto auch ein Brettergehege mit einem Dutzend scharrender Tiere, die er der Spezies der Hühnervögel zuschrieb, obwohl er zu Hause noch nie solches Federvieh gesehen hatte. Auch sie schienen hungrig zu sein, aber die Hennen hatten (und feierten das Ereignis wie ihre Schwestern in aller Welt) sechs Eier gelegt.
    Roberto nahm sich gleich eins davon, pickte mit der Messerspitze ein Loch hinein und trank es aus, wie er es als Kind gelernt hatte. Dann steckte er sich die anderen ins Hemd, und um die Mütter zu entschädigen wie auch die so fruchtbaren Väter, die ihn böse fixierten und entrüstet die Kämme schüttelten, gab er ihnen Wasser und Futter; dasselbe tat er Käfig für Käfig, wobei er sich fragte, dank welcher Vorsehung er gerade in dem Moment auf die Daphne gelangt war, in dem die Vögel nichts mehr hatten. Tatsächlich war er schon seit zwei Tagen auf dem Schiff, und spätestens am Tag vor seiner Ankunft musste jemand die Volieren versorgt haben. Er kam sich vor wie ein Eingeladener, der zu spät auf einem Fest erscheint, gerade als die letzten Gäste gegangen und die Tische noch nicht abgeräumt sind.
    Im übrigen steht nun fest, sagte er sich, dass jemand vor kurzem hier war und nun fort ist. Ob dieser Jemand einen oder zehn Tage vor meiner Ankunft hier war, ändert nichts an meinem Schicksal, sondern macht es höchstens noch grotesker: Hätte ich einen Tag früher Schiffbruch erlitten, hätte ich mich den Männern der Daphne anschließen können, wohin sie auch immer gefahren sein mögen. Oder nein, vielleicht wäre ich auch mit ihnen gestorben, wenn sie jetzt tot sind. – Roberto seufzte erleichtert auf (wenigstens war es keine Geschichte mit Ratten!) und sagte sich, dass ihm jetzt immerhin auch Hühner zur Verfügung standen. Er überdachte seinen Vorsatz, die Zweibeiner edlerer Herkunft freizulassen, und kam zu dem Schluss, dass auch sie, wenn sein Exil sich in die Länge ziehen sollte, sich als essbar erweisen könnten. Schön und farbenprächtig waren auch die Hidalgos vor Casale gewesen, dachte er, und doch haben wir auf sie geschossen, und hätte die Belagerung noch länger gedauert,hätten wir sie sogar gegessen. Wer als Soldat im Dreißigjährigen Krieg war – sage ich heute, aber wer den Dreißigjährigen Krieg damals mitgemacht hat, hat ihn nicht so genannt, und vielleicht war ihm nicht einmal klar, dass es sich um einen einzigen langen Krieg handelte, in dem immer wieder mal jemand Frieden schloss –, der hatte gelernt, hartherzig zu sein.

 
    4
    DEMONSTRIERTE BEFESTIGUNG
     
    W arum beschwört Roberto die Erinnerung an Casale herauf, um seine ersten Tage auf dem Schiff zu beschreiben? Gewiss, da ist der Zeitgeschmack an der Ähnlichkeit, Belagerung dort, Belagerung hier, aber von einem Menschen seines Jahrhunderts erwarten wir mehr. Wenn schon, dann mussten ihn an der Ähnlichkeit die Unterschiede faszinieren, aus denen sich so pointierte Gegensätze gewinnen ließen: Nach Casale war er aus freien Stücken gekommen, damit die anderen nicht hineinkamen, auf die Daphne war er geworfen worden und wünschte sich nichts sehnlicher, als sie zu verlassen. Aber ich würde eher sagen, dass er, während er eine Geschichte im und von Halbschatten erlebte, sich zurückbesann auf ein Geschehen voll

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