Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages

Titel: Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
erwartete. Was hatte er schon zu befürchten, wo er doch ohnehin auferstehen sollte?«
    »Das reicht, Monsieur de Saint-Savin«, sagte ein Offizier fast gebieterisch und ergriff seinen Arm. »Erschreckt unseren jungen Freund nicht so, er weiß noch nicht, dass gottloses Reden heutzutage in Paris die exquisiteste Form des bon ton ist, und er könnte Euch ernst nehmen. Geht auch Ihr jetzt schlafen, Monsieur de La Grive. Ihr wisst, dass der liebe Gott gnädig genug ist, auch Monsieur de Saint-Savin zu verzeihen. Wie sagte doch jener Theologe: Stark ist ein König, der alles zerstört, stärker ist eine Frau, die alles erhält, noch stärker jedoch ist der Wein, der die Vernunft ersäuft.«
    »Ihr zitiert nur die Hälfte«, lallte Saint-Savin, während er von zwei seiner Kameraden fast mit Gewalt hinausgeschleppt wurde. »Das Diktum wird der Zunge in der Fabel zugeschrieben, und die hatte hinzugefügt: Am stärksten jedoch ist die Wahrheit, und ich bin es, die sie sagt. Und meine Zunge, auch wenn ich sie jetzt nur noch mit Mühe bewegen kann, wird nicht schweigen. Der Weise muss die Lüge nicht nur mit Degenstößen, sondern auch mit Zungenhieben bekämpfen. Freunde, wie könnt ihr einen Gott gnädig nennen, der unser ewiges Unglück will, bloß um seinen sporadischen Zorn zu besänftigen? Wir sollen unserem Nächsten vergeben und er nicht? Und ein so grausames Wesen sollen wir lieben? Der Abbé hat mich einen Pyrrhonisten genannt, aber wir Pyrrhonisten, wenn er's denn so will, wir kümmern uns immerhin um die Opfer dieses Betrugs. Einmal haben wir zu dritt Rosenkränze mit obszönen Medaillen unter die Damen verteilt. Wenn Ihr wüsstet, wie fromm die von jenem Tage an wurden!«
    Er wankte hinaus, begleitet vom Gelächter der ganzen Runde, und der Offizier kommentierte den Abgang: »Wenn nicht Gott, so wollen doch wenigstens wir seiner Zunge vergeben, da er einen so guten Degen führt.« Dann sagte er zu Roberto: »Seht zu, dass Ihr ihn als Freund behaltet, widersprecht ihm nicht mehr als nötig. Er hat in Paris mehr Franzosen wegen theologischer Fragen niedergestreckt als meine Kompanie in diesen Tagen Spanier. Ich hätte ihn ungern während der Messe neben mir, aber ich würde mich glücklich schätzen, ihn auf dem Schlachtfeld an meiner Seite zu wissen.«
     
    So zu ersten Zweifeln erzogen, sollte Roberto am nächsten Tag weitere kennenlernen. Er war in jenen Flügel des Kastells zurückgekehrt, in dem er die beiden ersten Nächte mit seinen Monferrinern verbracht hatte, denn er wollte seinen Beutelsack holen, aber er hatte Mühe, sich zwischen den diversen Innenhöfen und Korridoren zurechtzufinden. Er schritt gerade durch einen von ihnen und merkte, dass er sich geirrt hatte, als er am Ende einen trüben Spiegel sah, in dem er sich selbst erblickte. Doch als er näher hinging, entdeckte er, dass jenes sein Spiegelbild zwar seine Gesichtszüge hatte,aber grellbunte Kleider nach spanischer Sitte trug und die Haare in einem Haarnetz hatte. Und nicht nur das, auf einmal war jenes Spiegelbild nicht mehr vor ihm, sondern verschwand zur Seite.
    Es hatte sich also gar nicht um einen Spiegel gehandelt. Tatsächlich stellte er fest, dass es ein Fenster mit staubigen Scheiben war, das auf ein äußeres Glacis hinausging, von dem aus man über eine Treppe in den Hof gelangte. Mithin hatte er nicht sich selbst gesehen, sondern einen anderen, der ihm sehr ähnlich war und dessen Spur er nun verloren hatte. Natürlich dachte er sofort an Ferrante. Jawohl, Ferrante war ihm nach Casale gefolgt oder vorausgeeilt, vielleicht befand er sich in einer anderen Kompanie desselben Regiments oder in einem der französischen Regimenter, und während Roberto sein Leben in jenem Fort vor den Mauern riskierte, betätigte er sich, wer weiß wie, als Kriegsgewinnler!
    Doch da Roberto inzwischen dazu neigte, über seine kindlichen Phantasien vom bösen Doppelgänger-Bruder zu lächeln, kam er beim Nachdenken über seine Vision bald zu dem Ergebnis, dass er wohl nur jemanden gesehen hatte, der ihm irgendwie ähnlich sah.
    Er wollte den Vorfall vergessen. Jahrelang hatte er von einem unsichtbaren Bruder phantasiert, und an diesem Abend hatte er ihn zu sehen geglaubt, doch gerade – sagte er sich im Versuch, mit seiner Vernunft seinem Herzen zu widersprechen – wenn er jemanden gesehen hatte, konnte dieser Jemand keine Einbildung sein, und da Ferrante ja Einbildung war, konnte der Jemand, den er gesehen hatte, nicht Ferrante sein.
    Ein Magister der

Weitere Kostenlose Bücher