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Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages

Titel: Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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überzog, in einem Licht, das ebenso auch alles andere beschien, auch Balken und Dauben aus abgelagertem Holz, imprägniert mit Ölen, Lacken und Teer ... Hätte daher nicht auch jenes große Theater himmlischer Vorspiegelungen, das er jetzt am Horizont zu sehen glaubte, bloß ein Traum sein können?
    Nein, sagte sich Roberto, der Schmerz, den jenes Licht meinen Augen bereitet, sagt mir, dass ich nicht träume, sondern wirklich sehe. Meine Pupillen schmerzen wegen des Sturms von Atomen, die mich von jener Küste her wie von einem großen Kriegsschiff aus bombardieren, und nichts anderes ist Sehen als ebendiese Begegnung der Augen mit dem Pulverstaub der Materie, der auf sie trifft. Gewiss ist es nicht so, hatte ihm der Kanonikus von Digne gesagt, dass dir die Dinge von weitem, wie Epikur es wollte, vollkommene Abbilder ihrer selbst schickten, die sowohl ihre äußere Form als auch ihre verborgene Natur enthüllten. Du empfängst nur Zeichen, Indizien, um aus ihnen jene Vermutung zu ziehen, die wir Sehen nennen. Aber gerade die Tatsache, dass Roberto eben erst durch diverse Metaphern benannt hatte, was er am Himmel zu sehen glaubte, indem er in Form von Worten erschuf, was ihm das noch formlose Etwas eingab, bestätigte ihm, dass er tatsächlich sah . Und unter den vielen Gewissheiten, deren Abwesenheit wir beklagen, ist eine einzige anwesend, nämlich die Tatsache, dass alle Dinge uns so erscheinen, wie sie uns erscheinen, und dass es ganz unmöglich nicht wahr sein kann, dass sie uns eben so erscheinen.
    Darum hatte Roberto, weil er sah und sicher war, dass er sah, die einzige Sicherheit, auf die seine Sinne und seine Vernunft sich verlassen konnten, nämlich die Gewissheit, etwas zu sehen: Und dieses Etwas war die einzige Form des Seins, von der er sprechen konnte, da ja das Sein nichts anderes war als das große Theater des Sichtbaren in der Muschel des Raumes – was eine Menge über jenes bizarre Jahrhundert besagt.
    Er war lebendig und wach, und dort drüben, ob Insel oder Festland, war etwas. Was es war, wusste er nicht: Wie die Farben sowohl von dem Gegenstand abhängen, dem sie anhaften, als auch vom Licht, das sich in ihnen bricht, und vom Auge, das sie fixiert, so erschien ihm die ferne Küste wirklich in ihrer zufälligen und vorübergehenden Vermählung des Lichtes, der Winde und der Wolken mit seinen erregten und gereizten Augen. Morgen schon, vielleicht schon in wenigen Stunden, würde jene Küste anders aussehen.
    Was er sah, war nicht nur die Botschaft, die ihm der Himmel schickte, sondern das Resultat einer engen Freundschaft zwischen Himmel und Erde und Beobachterposition (und Stunde und Jahreszeit und Beobachtungswinkel). Kein Zweifel, wäre das Schiff auf einer anderen Traverse der Windrose verankert gewesen, das Schauspiel wäre ein anderes gewesen, die Sonne, die Morgenröte, das Meer und das Land wären eine andere Sonne, eine andere Morgenröte, ein Meer und ein Land von ganz ähnlicher Art, aber anderer Form gewesen. Jene unendliche Zahl von Welten, von der Saint-Savin gesprochen hatte, war nicht nur jenseits der Sternbilder zu suchen, sondern auch im innersten Zentrum jener Blase des Raums, in welcher Roberto, als reines Auge, nun Ursprung unendlicher Parallaxen war.
    Wir werden es ihm nachsehen, wenn er inmitten so vieler Widrigkeiten seine ebenso metaphysischen wie festkörperphysikalischen Spekulationen nicht über diesen Punkt hinaustrieb – auch weil wir noch sehen werden, dass er es später tun wird, und dann sogar über Gebühr. Schon jetzt aber finden wir ihn mit einem Gedanken beschäftigt, der ihn noch weidlich umtreiben wird: Wenn es eine Welt geben konnte, in der verschiedene Inseln erschienen (viele im selben Moment für viele Robertos auf vielen Schiffen, die auf verschiedenen Längengraden verankert waren), dann konnten in dieser einen Welt auch viele Robertos und viele Ferrantes erscheinen und sich miteinander vermengen. Vielleicht hatte er an jenem Tag im Kastell von Casale, ohne es zu bemerken, sich nur um einige wenige Armeslängen gegenüber dem höchsten Berg auf der Insel des Eisens verschoben und dadurch in ein anderes Universum geblickt, das von einem anderen Roberto bewohnt wurde, der nicht zur Erstürmungdes Forts hatte ausrücken müssen oder der von einem anderen Vater gerettet worden war, der nicht den noblen Spanier getötet hatte.
    Aber auf diese Betrachtungen wich Roberto sicherlich aus, um sich nicht eingestehen zu müssen, dass jener ferne Körper, der

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