Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages
erwiderten das Feuer, und ein Streifschuss traf sie am Handgelenk. Blutend wich sie zurück, hörte aber nicht auf, nachzuladen und zu schießen, wobei sie den Feinden Schmähworte zurief. Als sie schon fast unter der Stadtmauer angelangt war, beschimpften sie einige Spanier: »Puta de los franceses!« Worauf sie im Dialekt zurückrief: »Jawohl, ich bin die Hure der Franzosen, aber nicht eure!«
Diese stolze Frauengestalt, diese Quintessenz ährentragender Schönheit und martialischen Zorns, dazu jener Verdacht einer Schamlosigkeit, den die Beschimpfung ihr angehängt hatte, entflammten die Sinne des Heranwachsenden.
Ruhelos war er an jenem Tag durch die Straßen von Casale gelaufen, um die Vision wiederzusehen; hatte die Bauern befragt, hatte erfahren, dass die junge Frau nach Auskunft der einen Anna Maria Novarese heiße, nach Auskunft anderer Francesca, und in einer Weinschenke war ihm gesagt worden, dass sie zwanzig Jahre alt sei, vom Lande komme und ein Techtelmechtel mit einem französischen Soldaten habe. »Is' 'ne Brave, die Francesca, wenn sie brav ist«, hatten die Zecher mit gutmütigem Augenzwinkern gesagt, und dass die Geliebte erneut mit schlüpfrigen Anspielungen bedacht wurde, ließ sie Roberto noch begehrenswerter erscheinen.
Eines Abends, ein paar Tage später, als er an einem Haus vorbeiging, erblickte er sie in einem dunklen Zimmer im Erdgeschoss. Sie saß am offenen Fenster, um einen leichten Wind zu nutzen, der die drückende Schwüle kaum zu lindern vermochte, das Gesicht im Schein einer Lampe, die von außen nicht zu sehen war. Roberto hatte sie nicht gleich wiedererkannt, da das prächtige Haar straff nach hinten gebunden war und nur zwei Strähnen über ein Ohr hingen. Man sah nur ihr leicht nach unten geneigtes Gesicht, ein fleckenlos reines Oval, beperlt mit einigen Schweißtropfen, und es schien die einzige wahre Lichtquelle in jenem Halbdunkel zu sein.
Sie saß über einer Näharbeit an einem niedrigen Tischchen, auf den sie den aufmerksamen Blick gerichtet hielt, so dass sie den jungen Mann nicht sah, der zurückgetreten war, um sie verstohlen von der Seite zu betrachten, an die Mauergepresst. Mit hämmerndem Herzen sah Roberto ihre Oberlippe, die von einem blonden Flaum überschattet war. Auf einmal hob sie eine Hand, die noch heller war als ihr Gesicht, um einen dunklen Faden an ihren Mund zu führen. Sie schob den Faden zwischen ihre roten Lippen, entblößte weiße Zähne und kappte ihn mit einem einzigen Biss wie ein edles Raubtier, zufrieden lächelnd über ihre milde Härte.
Roberto hätte die ganze Nacht lang dastehen können, kaum atmend aus Angst, entdeckt zu werden, und ganz starr vor Erregung. Aber kurz darauf löschte sie das Licht, und die Vision war vorbei.
In den nächsten Tagen ging er immer wieder an dem Haus vorbei, ohne sie jedoch wiederzusehen, außer einmal, aber da war er nicht sicher, ob sie es war, denn sie saß mit gebeugtem Kopf, so dass der entblößte rosige Hals zu sehen war, und eine Kaskade von Haaren fiel über ihr Gesicht. Eine Matrone stand hinter ihr, fuhr ihr mit einem großen Kamm kreuz und quer durch die Löwenmähne und ließ ihn ab und zu stecken, um sich ein flüchtendes Tierchen zu schnappen und es mit einem trockenen Knacken zwischen den Nägeln zu zerdrücken.
Für Roberto war das Ritual des Entlausens nicht neu, aber er entdeckte zum ersten Mal seine Schönheit und stellte sich vor, er könnte die Hände in jene seidigen Fluten tauchen, die Finger in jenen Nacken pressen, die Lippen in jene Furchen drücken und selbst jene Herden von Myrmidonen vernichten, die sie verunreinigten.
Doch er musste sich von dem Zauber lösen, da ein lärmendes Gesindel durch die Straße zog, und es war das letzte Mal, dass ihm jenes Fenster liebreizende Anblicke bot.
An anderen Nachmittagen und Abenden sah er zwar erneut die Matrone, auch ein anderes Mädchen, nicht aber sie. Woraus er schloss, dass sie dort nicht wohnte, sondern nur manchmal zu Besuch kam, vielleicht zu Verwandten, um irgendeine Arbeit zu verrichten. Wo sie sein mochte, erfuhr er viele Tage lang nicht.
Da aber die Liebessehnsucht ein Rauschtrank ist, der an Stärke zunimmt, wenn er in die Ohren eines Freundes geträufelt wird, konnte Roberto, während er vergebens durch Casale lief und immer mehr abmagerte, seinen Zustand nichtvor Saint-Savin verheimlichen. Ja, er enthüllte ihn ihm aus Eitelkeit, denn jeder Liebende schmückt sich mit der Schönheit der Geliebten – und
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