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Die Insel Des Vorigen Tages

Die Insel Des Vorigen Tages

Titel: Die Insel Des Vorigen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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»Was für ein fröhliches Schauspiel wäre es, wenn man durch einen Kristall in der Brust die Bewegungen des Herzens sehen könnte wie bei den Uhren!«
    Im Licht der Sterne verfolgte er den langsam gemurmelten Rosenkranz der Körnchen in einer Sanduhr und philosophierte über jene Häufchen von Momenten, über jene sukzessiven Anatomien der Zeit, über jene Ritzen und Schlitze, durch welche die Stunden eine nach der anderen tröpfelten.
    Doch im Rhythmus der vergehenden Zeit hörte er die Vorankündigung seines Todes, dem er sich Schritt für Schritt mit jeder Bewegung nahte, er hielt die kurzsichtigen Augen näher hin, um jenen Logogryph von Fluchten zu entziffern, mit bang bebender Metapher verwandelte er eine Wasseruhr in eine fließende Bahre, und am Ende schimpfte er auf jene Scharlatane von Astrologen, die ihm nichts anderes vorhersagen konnten als die bereits vergangenen Stunden.
    Und wer weiß, was er noch alles geschrieben hätte, wenn er nicht das Bedürfnis verspürt hätte, seine poetischen Mirabilia gut sein zu lassen, so wie er zuvor von seinen chronometrischen Mirabilia abgelassen hatte - und nicht aus eigenem Willen, sondern weil er zugelassen hatte, daß ihm, der inzwischen mehr Lebenswasser als Leben in den Adern hatte, jenes Ticktack zu einem hüstelnden Schlaflied geworden war.
    Am Morgen des sechsten Tages, geweckt von den letzten noch ächzenden Maschinen, sah er mitten zwischen den Uhren, die alle umgestellt worden waren, zwei kleine Kraniche scharren (waren es Kraniche?), die eine der schönsten Sanduhren umgestürzt und zerbrochen hatten.
    Der Eindringling, der alles andere als erschrocken war (und warum sollte er es auch gewesen sein, wo er doch genau wußte, was und wer alles an Bord war?), hatte, absurder Streich für absurden Streich, die beiden Vögel aus dem Gewächshaus befreit. Um mein Schiff durcheinanderzubringen, klagte Roberto, um mir zu demonstrieren, daß er mächtiger ist als ich...
    Aber wieso gerade Kraniche, fragte er sich, gewohnt, jedes Ereignis als ein Zeichen zu sehen und jedes Zeichen als eine Devise. Was hat er mir damit sagen wollen? Er versuchte sich an den symbolischen Sinn der Kraniche zu erinnern, wie er bei Picinelli oder bei Valeriano aufgeführt war, aber er fand keine Antwort. Nun wissen wir zwar sehr gut, daß es in jenem Serail der Überraschungen weder Zweck noch Sinn gab, der Eindringling war inzwischen genauso nervös und kopflos wie Roberto; aber das konnte Roberto nicht wissen, und so versuchte er zu entziffern, was nichts anderes war als ein ärgerliches Gekritzel.
    Ich kriege dich, ich kriege dich, verfluchter Kerl, rief er. Und noch ganz schlafbenommen ergriff er das Schwert und stürzte sich erneut in den Kielraum, stolperte, purzelte kopfüber die Treppe hinunter und landete in einer noch unerforschten Zone, zwischen Reisigbündeln und Stapeln frisch geschnittener Rundhölzer. Aber im Fallen hatte er einen Stapel umgestoßen, und so fand er sich inmitten von Rundhölzern mit dem Gesicht nach unten auf einem Gitter liegen, wo er erneut den fauligen Gestank der Bilge roch. Und genau unter sich sah er Skorpione krabbeln.
    Es kann gut sein, daß mit dem Holz auch Insekten in den Schiffsbauch gelangt waren, und ich weiß nicht, ob es wirklich Skorpione waren, aber Roberto sah sie als solche, und natürlich hatte der Eindringling sie hergebracht, um ihn zu vergiften. Um dieser Gefahr zu entfliehen, rappelte er sich auf und versuchte, die Treppe zu erreichen, aber auf diesen Rundhölzern kam er nicht von der Stelle, so schnell er auch lief, er verlor das Gleichgewicht und mußte sich an der Treppe festhalten. Als er endlich wieder hinaufgelangt war, entdeckte er, daß er eine Schnittwunde am Arm hatte.
    Sicher hatte er sich mit dem eigenen Schwert verletzt. Und was macht nun Roberto? Anstatt sich um seine Wunde zu kümmern, eilt er in den Kielraum zurück und sucht keuchend zwischen dem Holz nach seiner Waffe. Er findet sie blutbefleckt, bringt sie ins Achterkastell und gießt Branntwein auf die Klinge.
    Dann, als er keinerlei angenehmes Gefühl verspürt, schwört er allen Prinzipien seiner Wissenschaft ab und gießt sich die Flüssigkeit direkt auf den Arm. Er ruft ein paar Heilige an, im Ton zu großer Vertraulichkeit, er rennt ins Freie hinaus, wo gerade ein heftiger Regen eingesetzt hat, unter dem die Kraniche im Fluge verschwinden. Der schöne Guß rüttelt ihn auf: Er kümmert sich um die Uhren, läuft dahin und dorthin, um sie in Sicherheit zu

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