Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
die Steilhänge geschnittenen Skulpturen, genoss die Sonnenwärme und das Licht; finstere Gedanken lagen mir ferner denn je. Ich lief, sah die auflaufenden Wellen, die kleinen Kiesel unter meinen Schritten und die Muster, die das Schmelzwasser unterhalb des Abhangs in den Grund geritzt hatte – Deltas winzigster Flüsschen, deren Zeichnung sich nie wiederholte …
Was das Weltende betrifft, so ist es längst gekommen. Wir haben es nur nicht bemerkt … Doch nicht davon wollte ich schreiben, vom Irrsinn der Welt. Der ist offensichtlich: all die Konvulsionen und Gewaltausbrüche, all das hysterische Kotzen, der Frevel, die unkontrollierte Weinerlichkeit oder im Gegenteil die leidenschaftslose Selbstgewissheit und unerschütterliche Kaltblütigkeit … Worum es mir geht, ist das Unbekannte. Denn zu dem Gefühl des Zeitenendes gehört auch das räumliche Gefühl vom Ende der Welt, dem finis terrae. Jenseits dessen etwas existiert, auch wenn es uns unbekannt ist – aber etwas existiert dort, etwas wird dort auf jeden Fall sein. Aber wie hingelangen, wie hinter dieses Ende, diesen Rand schauen – das wissen wir nicht. Was ist dort? Wir wissen es nicht. Die Liebe oder der Tod? Wir wissen es nicht. Auch kennen wir die Losung nicht, durch die Zutritt gewährt wird in dieses Dahinter. Und so haben wir, was wir haben: eine Vergangenheit, die zusammen mit den Göttern stirbt, eine irrwitzige, sinnvergessene Gegenwart und eine Zukunft … Eine Zukunft, die wie eine Angstwand heranrückt, denn wir fühlen alle, dass alles sich verändert – aber was und in welchem Moment, das wissen wir nicht. Und worin die Rettung bestünde, was mit in die Rechnung eingehen wird, auch das wissen wir nicht. Wir wissen nicht, warum eine bestimmte Wahl notwendig und bis wann sie zu treffen noch nicht zu spät ist. Wir wissen nicht, worin diese verfluchte Wahl besteht – und genau hierin besteht das Gefühl vom Zeitenende. Die Götter sind in uns Menschen gestorben und geben uns nichts mehr ein, wir haben verlernt, ihre Stimmen zu hören. Sie überhaupt zu hören, geschweige denn, auf sie zu hören. So ist es kein Zufall, dass ich auf einem der heiligen Hügel von Kolgujew, der Semigolowaja-Kuppe, nichts als einen in den Stein gekratzten obszönen Fluch fand, einen Fluch, der auf der Stelle alles übertönt und jede Hoffnung zunichte macht, es werde einer, der hier hinaufsteigt, die Stimme hören … Und von einem anderen der heiligen Hügel, dem Bolschoje Serdze, von dem herab früher Braut und Bräutigam Silbermünzen werfen mussten, um in Wohlstand und Eintracht zu leben, sind alle Geldstücke verschwunden. Sie wurden der Tundra entnommen, ihr gestohlen. Doch gibt es deshalb mehr Reiche? Oder mehr Glückliche? Seltsam: Wahrscheinlich lässt sich heute auf Kolgujew keine einzige Silbermünze mehr finden … Wohin ist all dieses Silber wohl verschwunden? Du kennst die Antwort. Und eben deshalb finde ich es trotz allem besser, nach den Göttern zu suchen – sei es auch an Orten, wo das Gedächtnis an sie erkaltet ist –, als teilzuhaben am Irrsinn der Welt. Vielleicht finden wir bei dieser Suche zu guter Letzt doch etwas. Wie der Maler Prokopi Jawtysy, der uns in Narjan-Mar seine Bilder zeigte: Er hat zweifelsohne mit den alten Geistern kommuniziert, die er selbst zuvor auferweckt hat. 36
Wie Alik, der zu den küstennahen Koschki rudert, um gegen die Brandung anzuschreien …
Ja, Liebste. Ich glaube, er schreit nicht aus Verzweiflung und Ausweglosigkeit, wie ich zunächst dachte, als ich davon erfuhr. Er flieht aus dem Irrsinn der Siedlung bis an den Rand, den alleräußersten Rand der Erde – vielleicht um dort, inmitten der anprallenden Naturgewalt, einsam und allein, da ja doch niemand ihm helfen könnte: den Flügel des Adlers zu besteigen.
Die küstennahen Koschki sind schmal, sehr viel schmalere Sandbänke als die große Koschka, oder genauer: Es sind langgezogene Sandinseln, an denen das sich rings um Kolgujew erstreckende Flachwasser endet und die offene See beginnt. Von Bugrino aus kann man mit dem Fernglas direkt zu den Koschki hinüberschauen, weshalb ich mir die Szenerie gut vorzustellen vermag: die Mündung der Bugrjanka und die hellblaue, sich weit ins fahle Niedrigwasser hinausschwingende Landzunge. Ihre emporgetauchten Sandbänke, die in einem halb durchsichtigen, eisigen Glanz erschimmern, als seien sie wirklich von Eis überzogen. Kälte steigt vom dunklen Flusslauf auf, kalt bläst der Wind von der Insel her, am kalten
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