Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Er ist ganz und gar Bewegung, Tanz, Flug, schamanische
Reise
.
Aliks und Toliks Vorfahr Iwan Purpej konnte sich in einen Adler verwandeln. Wenn er mit einer schwierigen Sache konfrontiert war und sich beraten musste, setzte er die Maske auf und begann wahrzusagen, er tanzte und schlug so lange die Trommel, bis er besinnungslos zu Boden fiel und seine Seele – der Adler – den reglosen Körper verließ und von der Insel fort und über die Meerenge hinüber zum Festland flog, zu jenen, die ihm an Kraft und Geist gleichkamen. Solange sie beratschlagten, in der Dämmerung auf einer Flussböschung hockend und von Zeit zu Zeit ihre kräftigen Flügel schwingend, um die von der ungewöhnlichen Federlast niedergedrückten Schultern zu lockern, oder am hellichten Tag über der Tundra dahinsegelnd und die in den Flüssen wimmelnden Fische, die umherschwirrenden Bremsen, die in zahllosen Herden dem Meer entgegenziehenden Rene beobachtend – so lang lag sein Körper im Tschum auf der Erde, reglos und fühllos, wie tot. Einen Tag, zwei Tage, drei. Dann flog der Adler zurück, Iwan Purpej erwachte und gab bekannt, was er entschieden hatte. Nach seinen Reisen war er hungrig und aß mit Genuss …
Trevor-Battye hat viel, sehr viel außerordentlich Interessantes nicht wahrgenommen auf Kolgujew!
Die Initiationszeit eines Schamanen soll zwanzig Jahre betragen haben, während derer er sich streng an eine Reihe von Gelübden halten musste. Danach verfügte er über all seine Kräfte, konnte mit den Geistern kommunizieren, mit ihnen in die obere und die untere Welt reisen und besaß die Fähigkeit, eine andere Gestalt anzunehmen; dann bekam er auch alle Ritualgegenstände: die Masken, die Schlägel, die Trommel mit der vollen Anzahl an Schellen. Brach er eines der Gelübde, verlor er seine schamanische Kraft.
Iwan Purpej ist mit seinen Kräften weder verschwenderisch noch allzu knauserig umgegangen. Einmal, auf irgendeiner Hochzeit, wollte er die Gesellschaft unterhalten. Er zieht seine Maliza aus, bohrt auf Bauchhöhe zwei Löcher in die Joppe und zieht die Zugriemen einer Narte durch. Dann bittet er die Frauen aufzusteigen. Die setzen sich, während er sich hinten zum Lenken gegen die Kufen stemmt – und los gehts! Im Kreis um den Tschum … Der Schlitten jagt, als würde er gezogen, als wären Rene vorgespannt. Seitlich flattern die Bänder, die Glöckchen läuten – aber vorn keine Rene! Dreimal ging es so mit der Narte immer rund um den Tschum. Die letzten Augenzeugen dieser wunderlichen Schlittenfahrt sollen, heißt es, erst kürzlich gestorben sein.
Besonders erstaunlich sind Ereignisse, die den Schamanen im Traum widerfahren, die dann aber in die Wirklichkeit hineinragen und deshalb so erscheinen, als wären sie nicht geträumt, sondern real. Das Wissen darum sollte uns noch von Nutzen sein, als unser Weg durch die Tundra vom Sonnenuntergang bis zum Sonnenaufgang durch Siirtenland führte … Aber der Zufall! Zwei Schamanen beschließen ein Kräftemessen. Nachts im Traum zeigt sich der eine dem anderen in Gestalt eines Chora (eines männlichen Rens), während dieser sich jenem in Gestalt eines Ja-Chora zeigt (eines
unterirdischen
männlichen Rentiers, sprich: eines Mammuts). Angesichts dieses unbezwingbaren Riesen packt das Ren die Furcht und es will Reißaus nehmen, aber das stärkere Mammut holt es ein und stößt ihm mit seinem »Geweih« ins Hinterteil. Als der so Besiegte am nächsten Morgen erwachte, hatte er ebendort einen blauen Fleck …
Wie haben die beiden Schamanen einander treffen können in ihrem jeweiligen Traum – oder haben sie
ein und denselben
Traum geträumt? Wie konnte der Kampf zwischen dem Chora und dem Ja-Chora stattfinden, da letzterer doch seit Jahrtausenden aus der Natur verschwunden ist – ganz abgesehen von der Frage, ob sich die Kolgujewer Nenzen ein Bild von dessen Äußerem machen? Und schließlich, wie konnte sich an der Körperstelle, die im Traum von einem Stoß getroffen wurde, ein realer blauer Fleck bilden?
Auf Kolgujew haben wir einige wundersame Geschichten über Schamanen gehört, denen man offenbar genau so glauben muss, wie man den Erzählungen von jenen Wundern glaubt, die christliche Heilige vollbracht haben sollen. Jedenfalls wurde die Welt von den Beschwörungen der Schamanen ebenso zuverlässig im Gleichgewicht gehalten wie vom innigen christlichen Gebet. Als Trommel und Gebet verstummten, geriet die Welt ins Wanken. Die Erde will nicht ohne Götter leben. Die Erde kann
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