Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Atemschöpfen, Stille …
Unabwendbarkeit.
Säubert der Grashüpfer das Uhrwerk des Spätsommers vom Rost? Branden die Wellen ans Ufer und zertrümmern die Insel? Nachts erreichen uns die Signale störungsfrei. Nachts sind wir offen für Botschaften …
Warum spreche ich unentwegt von der Nacht, da der Tag doch eigentlich noch nicht zu Ende war. Überhaupt war es ihm vergönnt, einer der längsten Tage meines Lebens zu werden – nicht nur, weil später immerhin noch die Nacht zu ihm hinzukam, sondern wegen der unzähligen Male, die ich anschließend in ihn zurückgekehrt bin. So gesehen hat dieser Tag erst begonnen. Ich lief am Meer entlang, weit hinter meinen Gefährten zurückbleibend, die See rollte von rechts heran, links türmten sich, zerschellt, Bastionen abgerutschten Lehms; und über all dem, über der Welt, über der See wölbte sich, sonnendurchflutet, eine Bläue von solch ursprünglicher Reinheit, dass ich am liebsten das polnische »niebieski« dafür verwenden würde, das »blau« und »Himmel« noch ineinssetzt.
War ich glücklich?
»Glück« ist wohl für das, was ich empfand, ein zu dummes Wort. Vielleicht deshalb diese stumpfsinnige Auflistung – Wind, Wellen, Sand, Lehm –, weil es nichts weiter gab. Nichts außer den drei Elementen: Erde, Wasser und Luft. Und an ihrer Grenze spürte ich schneidend meine Einsamkeit und mein Getrenntsein von der Geliebten – und zugleich mein Einssein mit allem, dem Licht dieses Tages, dem Glanz des Meeres, ihr; ich erzählte ihr, meiner Geliebten, was mich umgab, und glaubte in diesem Moment, dass sie mich hörte …
Jeder Versuch, in der Erinnerung deutlicheren Einzelheiten nachzuspüren, bleibt vergeblich: Der Sand war wahrscheinlich gelb, mit dunklen, von der Steilküste abgebrochenen, vom Wasser zerflockten und angespülten Torfstückchen; ich würde gern behaupten, auch die Wellen hätten einen gelblichen Ton gehabt, aber das stimmt nicht, das Meer war blau, eine wirklich blaue See. Dazu ein leerer grenzenloser Himmel. Etwas Ähnliches habe ich einmal auf der Krim gesehen, im Frühjahr, wenn das Meer noch kalt und die Strände leer sind.
Möwen gleiten den Küstenstreifen entlang.
Meine Schritte. Ein Rhythmus.
Worte.
Die Worte kommen gleichsam aus dem Nirgendwo, du läufst und läufst, und plötzlich bricht es sich Bahn, und sie strömen, und du flüsterst verwirrt, betrachtest eine auf dem Sand zerfließende Schaumflocke oder einen übriggebliebenen, von der Sonne zusammengebackenen Schneefleck und begreifst nichts … Ich spürte, dass ich die Grenze der gewohnten Welt überschritten hatte, und das hieß, dass unsere Reise nicht umsonst war, und dass, was immer noch geschehen mochte, allein dieser Tag genügte, um alles zu rechtfertigen. Ich war jung, voller Kraft und Hoffnungen. Ich spürte schon das Verlangen, etwas Umfangreiches zu schreiben, spürte, dass die fragmentarischen Stücke, die ich nach der ersten Fahrt geschrieben hatte, durch unsere Wanderung sich zusammenzufügen begannen … Wozu? Ich getraute mich noch nicht, das Wort »Buch« zu verwenden. Ein Buch ist eine zu schwierige und gar zu verantwortungsvolle Sache. Aber ich sah einen vielfach geschichteten Text vor mir, und der Vorgeschmack darauf ließ mich einen freudigen Elan verspüren.
Ich fühlte mich unbeschwert, auf die Zukunft gerichtet.
Die Zukunft. Darüber werde ich noch nachdenken müssen. Wusste ich damals denn, dass mein Rücken nach dieser Reise nicht mehr auf hören würde zu schmerzen? Nein, natürlich nicht. An dem Tag ruhte ich aus, genoss alles. Ich hatte keinen Rucksack um, spürte nicht die Muskeln, die sonst wie zerreißende Glasfaser knisterten, war frei von dem dumpfen Schmerz in der Wirbelsäule. Ich dachte, wird schon wieder. Aber – Irrtum. Vielleicht ist ein Wirbel rausgesprungen oder wurde Knorpel abgerieben, fest steht jedenfalls: Etwas ist dauerhaft geschädigt. Der normale Preis, finde ich. Der, den der Körper dafür bezahlt, dass er dich, deine Augen, dein wahrnehmendes Hirn und dein begeistertes Herz hierher gebracht hat, an den Rand der Welt. Angeblich haben die Bergsteiger vom Rucksacktragen völlig kaputte, eingesunkene Füße. Das ist der Preis, den sie bezahlen, um dorthin zu gelangen, wohin sie gelangen.
Der Preis.
Das Leben verlangt stets den vollen für jeden verwirklichten Traum.
Für schöpferisches Tun.
Aber ebenso teuer bezahlt man für nicht verwirklichte Träume. Du magst dich dein Leben lang nie zu etwas aufraffen –
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