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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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auch dafür präsentiert es die Rechnung. Und diejenigen, die niemals verzückt am leeren Ufer der Welt entlanggelaufen sind, ahnen das. Meinetwegen kann mir das Leben jetzt zusetzen und bedrohlich erscheinen, als seien in der ganzen Stadt die Lampen eingeworfen worden: Diese Nacht habe ich zumindest gehabt, die wir vom Sonnenuntergang jenes Tages bis zum Sonnenaufgang des folgenden durchwanderten – und sie war offen gestanden eine der erstaunlichsten Nächte meines Lebens. Ein wahrhaftiger Glücksmoment. Ich weiß nicht, was heute mit mir wäre, wenn es sie nicht gegeben hätte, denn Brüche und Glücksmomente schaffen nicht auf gleiche Weise
Zukunft …
    Ein scharfer Herbstwind, in dem schon deutlich Schneekälte zu spüren ist. Der Geldautomat auf der Puschkinskaja – leer. Der Geldautomat auf dem Prospekt Mira – leer. Die Rubelkrise 37 Auch mein Portemonnaie ist leer. Da hab ich mir eine kleine Zeitreserve in Form von harter Währung zusammengespart, um in Ruhe arbeiten zu können, und jetzt ist die Zeit weg. Aber mich zu erinnern, die Möglichkeit zumindest bleibt. Mit der Erinnerung ins Innerste jenes Tages, oder jener Nacht, vorzustoßen, als in meinem Herzen nur Begeisterung, nichts Überflüssiges war, kein Gefühl der Erniedrigung, keine Litanei meiner Misserfolge, die darauf pochen, nicht vergessen zu werden, und mir das Hirn zernagen. »Haut ab …« Ich habe immer genug Mumm, »Haut ab …« zu sagen – aber dann schießt wieder irgendetwas quer und …
    Was tuts. Da drüben im Torweg, da klaubt einer Essensreste aus der Mülltonne.
    Zum ersten Mal habe ich dieses Bild übrigens in Paris gesehen, und es hat mich erschüttert. Im Epizentrum des
europäischen Überflusses
– um genau zu sein: auf dem Pont Neuf – fischte ein Mann aus einem Abfalleimer die von Touristen weggeworfenen Reste einer Pizza, die sich dort jeder illegale Senegalese leisten kann. In den Bewegungen des Mannes, seiner Hände, seiner Lippen, des kauenden Mundes, lag eine animalische Konzentration. Er war mir kurz zuvor in der Menge aufgefallen: er hatte ein Gesicht von aristokratischer Blässe, einen lodernden Blick und einen Dreitagebart – als sei er direkt von der Leinwand herabgestiegen, wo genau solche Figuren, wunderbar stoppelbärtig und in grauen Mänteln, ihr Leben leben.
    »So muss ein echter Pariser aussehen«, hatte ich gedacht. Und eine Minute später schon schlang er die Pizzareste herunter. Vielleicht war er von einem Trip oder aus einer Alkoholdröhnung direkt in diesen rattenartigen Hunger gekippt und überließ sich ihm als einzigem Rettungsanker, um nicht davonzudriften. Wieder. Dorthin. Ins Bodenlose. Aber nicht das erschütterte mich beim Anblick dieses Mannes. Ich erkannte an ihm einfach erneut die vertrauten Züge dessen, der
davonläuft
und gerade einen der dramatischsten Augenblicke seiner Flucht erlebt: wenn der Mensch eine Grenze überschreitet, jenseits derer er zu sich – zu dem, der er bis dahin war – nicht mehr zurückkann. Das heißt, er hatte gewählt, vielleicht eben erst, in diesem Augenblick (denn er trug ja doch einen erstklassigen grauen Mantel und hatte keinerlei Ähnlichkeit mit, sagen wir: einem Clochard von den Seinequais), aber jemanden, zu dem er zurück gekonnt hätte, gab es schon nicht mehr. Denn es gab ihn selbst schon nicht mehr dort, woher er kam. Und er war damit einverstanden … Er glaubte selbst daran, dass er nichts mehr besaß außer seiner Niederlage …
    Er hatte den Schatz nicht gewonnen.
    »Und du, hast du ihn gewonnen?«, fragt er mich plötzlich, während sein Kopf sich von der Öffnung des Abfalleimers löst. »Ich?« Entsetzt weiche ich der Antwort aus, während ich spüre, dass der Traum nicht abfällt von mir; und ich sehe sein von feinen Falten überzogenes Gesicht wieder vor mir und seine Augen, in denen gleichgültiger Ekel steht vor der Nichtigkeit der Welt, vor all dem, weswegen ich mich vor dem Einschlafen immerzu hin- und herwälze, ein Ekel, der von dem klaren Wissen herrührt, dass zu leben sich nicht lohnt. »Sagen wir, irgendwie schon, ein bisschen.« – »Und warum bist du dann so?« – »Wie bin ich denn?« – »Was benimmst du dich, als ob das nicht du erlebt hättest? Was wirfst du das Handtuch, wenn da doch ein bisschen etwas war?!«
    Ja, ja er hat Recht, dieser Franzose.
    Der Teufel.
    Denn diese Begegnung auf dem Pont Neuf ist eine Begegnung mit dem Teufel gewesen.
    Der mich fragt, ob ich selber an meine Schätze glaube.
    Er weiß

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