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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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nicht ohne Andacht leben, so wie der Mensch nicht ohne Liebe leben kann. Und eher vernichtet sie die Menschen oder gibt ihnen die Fähigkeit an die Hand, einander auszumerzen, als dass sie ohne Götter leben würde.
    Iwan Purpej ist schon lange tot. Er wurde auf dem »Schamanenfriedhof« beerdigt, einem Ort weitab der gewöhnlichen Gräber auf dem rechten Ufer der Bolschaja Paartschicha, denn die Nenzen glaubten, dass Schamanen über zu große Kräfte verfügen, um neben den gewöhnlichen Menschen begraben zu liegen. Zwar ist der alte Schamanenfriedhof längst von Moos und Gras überwachsen, doch steht er bis heute im Ruf, verzaubert zu sein, und wenn ein Rentierhalter dort hingerät, so zerkrümelt er wenigstens ein bisschen Tabak über der Erde, damit der Ort ihm nicht die Sinne verwirrt und ihn wieder nach Hause entlässt. Iwans Trommel, seine Ikonen und seine uralte Bibel, in der die gesamte Ardejewsche Generationenfolge festgehalten war, überdauerten viele Jahre hindurch zusammen mit den Cheche und verschiedenem anderem Hausrat. Dann kamen die Geologen. Sie besaßen uneingeschränkte Macht über die Insel, sie haben alles gestohlen.
    Die verwaiste Kapelle am Scharok wurde schon früher, im Krieg, von irgendeiner »Expedition« verwüstet. Wer diese Leute waren, lässt sich heute nicht mehr klären, bekannt ist nur, dass sie zu fünft waren, darunter eine Frau. Vier von ihnen starben unter merkwürdigen Umständen und sind in einem gemeinsamen Grab unweit von Bugrino beigesetzt. Sie besaßen einen kleinen Kutter. Und ob sie nun die Küste erkunden wollten oder irgendein vom Meer her kommendes Schiff abpassen, jedenfalls fuhren sie nachts bei Ebbe zur Koschka und gingen dort im Promoj vor Anker. Anscheinend war das Ankerseil kurz und müssen sie alle eingeschlafen sein, jedenfalls hat die auflaufende Tide ihr leichtes Kutterchen zum Kentern gebracht …
    Das ist eigentlich die ganze Geschichte der Götter auf Kolgujew. Nur eine Kleinigkeit bleibt noch zu erzählen. Im Heimatmuseum von Narjan-Mar hatte man uns gesagt, dass auf Kolgujew, an der Gubistaja-Mündung, das letzte nenzische Idol stehe. So etwas sollte man sich nie entgehen lassen, und jetzt, wo wir hier an der Kriwaja allenfalls noch sechs, sieben Kilometer entfernt waren, da konnten wir doch nicht weitergehen, ohne einen Blick darauf geworfen zu haben! Zumal auch das Wetter seit dem Morgen ausgezeichnet war. Der Wind hatte die Wolken auseinandergetrieben, vom Meer her zeigte sich ein so blendendes, warmes Blau, dass sich das Herz unwillkürlich nach dem Süden sehnte, nach zärtlicher südlicher See. Wir brachen auf, folgten zunächst dem alten, von Geländefahrzeugen ausgefahrenen, stellenweise bereits mitsamt der Torfschicht abgebrochenen Fahrweg oberhalb der Küste. Dann stießen wir auf eine Schlucht mit einem sich seinen Weg aus moorigem Gelände strandwärts bahnenden schmalen Bach und wollten selber gerade zum Meer hinuntersteigen, als Alik ein Geräusch hörte – ein Helikopter. Und tatsächlich: Am klaren Himmel tauchte kurz darauf ein sich schnell über die grüne Ebene dahinbewegender Punkt auf, einem fliegenden Insekt ähnlich, gleich darauf eindeutig ein Hubschrauber … Er überflog die »Pennerhütte«, wie wir unsere Behausung getauft hatten, steuerte sie an, erstarrte in der Luft, setzte neben ihr auf. Wahrlich schlechte Zeiten, wenn du nach vier Tagen erstmals wieder Menschen siehst und nichts Gutes von ihnen erwartest. Mir schoss sofort durch den Kopf: Pfeif auf unsre Sachen, wenn sie die klauen, aber im Rucksack, da ist mein Tagebuch, und die vollen Filme! Wir waren bestimmt bald eine Dreiviertelstunde unterwegs, und mein bei jedem Schritt knackendes Knie schloss allein schon den Gedanken an eine eilige Umkehr aus. Umso größer meine Anerkennung für Alik: Im Sprint über Moorgrund hätte er spielend noch die besten antiken Olympioniken abgehängt. Der Hubschrauber stieg maximal sechs Minuten nach seinem Aufsetzen wieder aus dem die Baracke umlagernden Müll in die Höhe, doch Alik hatte ihn zuvor erreichen und mit dem Piloten sprechen können. Er kam von der Pestschanka und war wegen einer Kiste Mückenschutzmittel herübergekommen: die Geologen wussten, dass hier diverse Medikamente zurückgeblieben waren.
    Wir setzten unterdessen unseren Weg fort. Je nördlicher, desto höher und grandioser steigen die dicht ans Meer heranrückenden Steilhänge empor. Unter einer bisweilen zwei, ja drei Meter dicken, über die Köpfe

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