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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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französischen Mädchen sind hartnäckig, hängen an ihren Kerlen, saugen ihnen den ganzen Saft aus, schlürfen den ganzen Nektar auf. Tolle Mädels. He, wo seid ihr, alles zugeschüttet mit Unmengen, einfach Unmengen von Plunder, alles beeindruckend und alles unnötig – darin liegt das Grausige. Alles ist beeindruckend, alles ist unnötig, alles ist schwach – außer den Jugendlichen, den Schwarzen und den Mädchen auf Fahrrädern, als ob sie alle die eine Aufgabe hätten: durchzukommen. Mit Arbeit lässt sich durchkommen. Es gibt nichts Erbärmlicheres als das Touristenlos: flâner-acheter 44 . Fuck it.
    In der Nacht auf dem Weg vom Bahnhof Montparnasse zurück zum Hotel fiel mir auf, dass mir zwei dunkelhäutige Typen folgen. Ich freute mich darauf, dass gleich was passiert, weil wirklich keine geeignetere Bedrohung da war für mich, auf der Avenue du Maine, um diese Uhrzeit. Ich gieperte nach einer Berührung mit der Stadt, aber die wich aus, immerhin jetzt die beiden Kerle: ein passender Anlass (ein falscher Ton) und wir verschmelzen in einer herrlichen Keilerei. Dann kommt es zur Berührung. Wenn auch in dieser hässlichen Form …
    Sie rückten auf, der eine von rechts, der andere von links. Aber anscheinend haben sie auf Anhieb alles begriffen. Sie baten mich um eine Zigarette – um eine für zwei. Sie baten so höflich darum, dass ein Kinnhaken als Antwort einfach eine Reaktion eines Überreizten gewesen wäre.
    Wieder keine Berührung.
    Nur mit Paul.
    Er schrieb nachtsüber im verwaisten Büro eines Freundes, stellte ich fest: mein Anruf am frühen Nachmittag weckte ihn – er war erst um acht nach Hause gekommen. Den Abend verbrachten wir in seiner winzigen Mansarde, einem wirklich beengten Kämmerchen mit Dachluke.
    Ein Bett. Am Kopfende ein Drucker, daneben ein Tischchen mit Computerbildschirm. Des Weiteren ein Waschbecken aus Metall, ein Bord mit Geschirr und ein Elektrokocher. Ein paar russische, ein paar französische Bücher, ein ziemlich altes Tonbandgerät, eine Handvoll Kassetten. Vom Flur geht ein Dutzend gleichartiger Türen ab. Die Beleuchtung erlischt alle paar Minuten – auch auf der Toilette, worauf ich absolut nicht vorbereitet war. Dafür gibt es dort ein Fenster auf die Stadt hinaus, schwarze Dächer vis-à-vis, gelbes Licht in einer anderen Mansarde. In Pauls Kammer dagegen liegt die Luke so hoch in der Dachschräge, dass nichts zu sehen ist.
    Seltsam, in dieses ungeschminkte Paris geraten zu sein. Vielleicht wird es mir ja hier gelingen, meine Insel mit jemandem zu teilen? Ja, es gelingt.
Verstehen
ist doch möglich, überraschenderweise.
    Ich erinnere mich, wir fuhren im Bus, als Paul plötzlich sagte:
    »Ich spüre, dass sich alles ändert.«
    Da mich dieses Gefühl ständig verfolgt, fragte ich verblüfft: »Das fühlst du hier, in Paris?«
    »Ja. Eine globale Veränderung, nicht wie die Perestrojka, etwas viel Ernsteres.«
    »Als ob eine Epoche zu Ende ginge.«
    »Ja, ja. Auch die Art des Denkens und Schreibens, an die wir uns gewöhnt haben, an die sich die alte Literatur gewöhnt hat – auch die wird zu Ende gehen. Ich hab einen kleinen Freundeskreis. Das erlaubt einem, in dem Gefühl zu leben, etwas tun zu können.«
    »Hast du denn nicht das Gefühl, dass hier alle ein bisschen schlafen?«
    »Nein, ich hab das Gefühl, dass das allen am Arsch vorbeigeht …«
    Zuletzt legte sich der Sturm in meiner Seele. Sie schloss Frieden.
    Außerdem trifft Paris keine Schuld und haben die Franzosen Recht. Allein schon, weil die Stadt existiert – diese große, unsinkbare Stadt, dieses steingebaute Schiff, das alle Wüsten der Welt mit den funkelnden Konzentraten seiner überreichen Energie bescheint. Ich hätte nur einfach nicht meine Insel hier feilbieten sollen. Denn, ich wollte sie ja Paris verkaufen, und habe genau deshalb getobt, weil daraus nichts wurde.
    Und erst als die letzten Hoffnungen auf diesen Deal geplatzt waren, war ich überzeugt, wirklich einen Schatz gewonnen zu haben. Denn ein Schatz ist etwas, das sich nicht verkaufen lässt.
    In Paris erzählte ich ein paar jungen Autoren, mit denen Paul mich zusammengebracht hatte, von der Insel. Es war seltsam, mit anzusehen, wie sie sich auf meine Schilderungen stürzten – als mangele es hier in Paris an irgendetwas. Aber was war es? Ich war
selbst
dortgewesen, bin selbst vom Sonnenuntergang bis zum Sonnenaufgang durch diese Nacht gewandert, und das kann man sich an keinem Kaffeehaustisch ausdenken. Ein nicht zu

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