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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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bestreitender Punkt. Denn Gedanken besitzen Aktualität, wenn sie zu Taten werden, wie die Gedanken Pascals. Damit eine Kultur lebt, muss sie sich in Handlung verwandeln, dann ist sie lebenswichtig. Das habe ich gerade hier in Paris besonders deutlich gespürt.
    Es war überaus seltsam, Paris und Kolgujew zu vergleichen. Aber Paris hat ja einst auch als Insel angefangen. Eine Insel, die Glück hatte, kann man sagen. Im Vergleich zur Île de la Cité ist Kolgujew eine mit einem hauchdünnen Lebenshäutchen überzogene Fläche, worauf sich eine noch feinere, spinnwebartige Schicht »Geschichte« und »Kultur« abgesetzt hat. Trotzdem hat es nicht seinen uranfänglichen Charakter eines wilden
Raumes
verloren. Eines Raumes, in dem ich meine Würde auslote, insofern ich durch ihn die ganze Welt umgreife. Denn es gibt eine besondere Art von Gedanken, die ausdrücklich mit dem Ausschreiten verbunden sind, die man nicht »aussitzen« kann.
    Jeder umherziehende Mönch oder Dichter wird mich verstehen.
    Vor allem aber trat zutage, was ich in jener Nacht absolut nicht wissen konnte – ich glaubte ja, alles fange erst an, und ich würde noch weiter durch die Tundra laufen, und diese Nacht, sie würde wohl eine unter vielen sein. Aber dann stellte sich heraus, dass sie in meinem Leben die einzige Nacht in der Tundra vom Sonnenuntergang bis zum Sonnenaufgang blieb. Es war
jene eine
Nacht, die einzig-alleinige, unwiederholbare, einer jener »Lebensblitze«, aus denen das Leben ja im Grunde besteht …
    Als ich dies begriff, fand alles seinen Platz, und ich dankte dem Herrn, dass es sie gegeben hatte, dass diese Nacht und alles, was auf sie folgte, mir widerfahren ist. Vielleicht hätte ich darüber nicht schreiben sollen. Der Einbruch des »Lebens« in die Erzählung ist gar zu brutal geraten, alles wurde verknäult und vermengt von dem Zeitstrom, der aus der Zukunft mir entgegenflog, um unausweichlich Vergangenheit zu werden. Die Zukunft bekommt nun einmal einen besonderen Beigeschmack, wenn an ihr nichts mehr zu ändern ist. Und ich bin sehr froh, dass die Zeit die Grenzen meines Plans gesprengt hat und zusammen mit der Erzählung in die Freiheit entströmt ist. Letzten Endes ist alles, was mit uns geschieht, eine
Folge
des allerersten Schreitens durch die Nacht zum Licht eines neuen Tages, eine Folge unserer Geburt …
    Petka hat die Moskauer Universität absolviert und ist heute, wie sein Vater, Geograph. Zusammen mit holländischen und deutschen Ornithologen befasst er sich mit Gänsen und verbringt so gut wie jeden Sommer auf Kolgujew, von wo er mir Grüße unserer Bekannten mitbringt. So habe ich ihm also vor vielen Jahren tatsächlich die Insel geschenkt.
    Alik und Tolik sind auf Kolgujew geblieben. Es ist ihnen nicht gelungen, den von den Ahnen ererbten Zeitring zu öffnen. Sie haben sich dieser Zeit unterworfen und werden für immer und ewig über die Insel streifen, jagen, die vom Meer ausgeworfenen Gaben auf klauben und auf
Botschaft
warten. Denn alle warten auf Botschaft.
    Einmal fanden Alik und Tolik am Strand eine Flasche. Sie enthielt einen Brief. Und Konfekt. Das Konfekt aßen sie; den Brief konnten sie nicht lesen, er war auf Schwedisch. Sie hoben ihn lange auf, warfen ihn nicht fort, da die Nachricht, obzwar unverstanden, doch an der richtigen Adresse gelandet war, insofern sie ja einen Empfänger gefunden hatte. Im Kern bestand die Botschaft darin, dass Johan Ole Olsen die Flasche am 1. Januar 1994 mit seinen Freunden geleert und ins Meer geworfen hatte.
    Die See ist eine Art »Internet«, ein weltweites Kommunikationsnetz.
    Noch eine Botschaft erreichte Alik durch einen amerikanischen Evangelisten, der 1996 für einen Tag nach Kolgujew flog und dort Post verteilte. Er erklärte, der Absender suche einen Brief kontakt und frage nach den Interessen des künftigen Partners, außerdem wolle er ihn zum Karneval nach Trinidad einladen. Aber Alik sprach kein Englisch, er konnte keine Brieffreundschaft eingehen, konnte nirgendwohin zum Karneval fahren. Er schrieb mir, bat um einen Englischkurs auf Kassette. Den ich ihm auch schickte: ein Lehrbuch und zwei Kassetten. Ein Jahr später erhielt ich sie zurück, vermutlich hatte er das Englische nicht erlernt und schickte die Kassetten aus Sorgfalt zurück, denn er schrieb, nimm mir doch bitte irgendeine Metal-Musik auf. So sieht Kolgujew’sche Integrität aus: Auf der Insel ist die Kulturschicht sehr dünn, egal welchen Gegenstand zu beschaffen ist schwierig, und so

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