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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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Wind.
    Es war eigentlich kein Wind, sondern ein Aufruhr der finsteren Mitternachtsmächte, die sich empörten gegen das leichtfertige Frohlocken des Sommers dort, wo für gewöhnlich sie sich als die Herren fühlten. Ein Aufruhr, der alle lauen Brisen, alle spielerischen Lüftchen zusammenballte und sich unterwarf, und jetzt tobten sie am Himmel, schwere Wolken vor sich hertreibend, fliegende Trupps aufständischer Krieger. O Hoher Norden! Wild sind die Treiber deiner Winde, die einen mit ihren Peitschen zerfetzen. Und deine buntscheckigen Horden, die grausamen, die in den wolken- und nebelverhangenen Eisfeldern zum sommerlichen Angriff ansetzen, sie kennen keine Gnade. Binnen kurzem war der zarte Kolgujewer Sommer von den anstürmenden Rössern niedergetrampelt und die Insel versunken in Finsternis.
    Und am eigenen Leibe erfuhren wir die Kraft des Windes.
    Anderthalb Stunden liefen wir, ehe wir auf einen Fahrweg stießen, quer zum Wind, der sich von links auf uns stürzte, uns stieß, umwarf, mit Regen peitschte und stark nach rechts abtrieb, in die bültenübersäte Torftundra, wo der höckerige, aufgequollene Boden dermaßen unter dem Fuß nachgibt, dass das Gehen zur Qual wird. Bei jedem Schritt, mit dem du dich über diese Bülten vorwärtsarbeitest, glaubst du, bis zu den Knien einzusinken, und du verfluchst alles auf der Welt, und betrachtest diese unerträglich trostlose Landschaft. Wo ist diese unberührte sommerliche Tundra hin, die uns am Morgen umgab?! Jetzt erheben sich, riesigen Gräbern gleich, ringsumher nur flache, braune, vom ewigen Frost aufgequollene Pingos mit fahlen Grasbüscheln obenauf – Mammutfellsträhnen, die der Wind zaust.
    Der Fahrweg, auf den ich in den Bülten so viel Hoffnung gesetzt hatte, erwies sich schlicht als ein Streifen nackten Tundrabodens, von dem die Ketten der Geländefahrzeuge die Vegetationsschicht heruntergerissen hatten, und hervorgekommen war natürlich nichts anderes als wieder Torf, dermaßen zerfurcht, dass dort, wo Bäche querten, sich große schmutzige Becken gebildet hatten, die man umrunden musste, es sei denn, du watest mit hochgeschlagenen Stulpen mittendurch, im ständigen Gefühl, dass da unter deinen Füßen sich bloß ein Loch aufzutun braucht und du steckst bis zum Bauchnabel, wenn nicht bis an die Schultern in dieser undurchsichtigen Pampe.
    Alik und Tolik waren entweder an ein schnelleres Vorwärtskommen auf dieser Art Weg gewöhnt oder sie kannten diesen hier einfach – jedenfalls verzagten sie nicht und beteuerten immer wieder, dass die Renhirten nicht mehr weit seien. Jedoch, es vergingen zwei Stunden, drei, vier; das hinter den Wolken verschwundene Licht war längst restlos erloschen, aber wir schmatzten noch immer mit unseren Stiefeln über den zerwühlten Weg, und der Wind, der jetzt von hinten angriff, trieb uns immer weiter und weiter vorwärts und ein Ende schien nicht in Sicht. Ich war längst ausgelaugt bis zum letzten »Ich kann nicht mehr« und schwieg eisern, weil mit jedem Wort, mit jedem Ausatmen mein Körper an Wärme verlor. Der Körper sonderte keinen Schweiß mehr ab, das Laufen wärmte ihn nicht mehr. Er wurde starr und steif und kalt, wie die am Wegrand von den Ketten herausgerissenen Weiden. Das Einzige, woran ich dachte – nein, eigentlich nicht dachte, sondern wonach ich mit jeder Zelle meines Wesens gierte –, war ein großes Stück Fleisch. Und zwar nicht einfach ein großes, sondern ein riesiges, saftiges, heißes Stück Fleisch, das mir wieder Leben bringt. Bei meinem ersten Besuch auf Kolgujew gab es in der Tundra bei den Rentierhirten jede Menge Essen, und ich wusste genau, sobald wir beim Lagerplatz ankämen, würden wir ein Stück Fleisch bekommen. Oder zumindest eine heiße Brühe. Es konnte vorkommen, dass sämtliches Fleisch herausgefischt war, aber von der Brühe selbst blieb normalerweise immer etwas im Topf, der stets über einem glimmenden Feuer hing.

Das Ren
    Als zum ersten Mal in meinem Beisein ein Ren geschlachtet wurde, begriff ich es ehrlich gesagt nicht. Es war auch einigermaßen dunkel, und in der feuchten Tundradämmerung abseits des Feuers etwas zu erkennen war schwierig, von den im Korral zusammengetriebenen Tieren hörte man nur, wie kollerndes Gestein, den schweren Schritt. Aber dieses Tier lag mit gebundenen Läufen nah den gelben Flammen, die züngelnd seine sacht und hilflos sich hebende und senkende zottige Flanke peitschten. Ich wusste, es war für die »Brigadenversorgung« vorgesehen, und

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