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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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schweigt Kolja und starrt mich mit seinen unglaublichen Augen an. Sprich, er will mich fragen, ob ich, der Moskauer, verstehe, was »noch zehn Tage« bedeutet: Noch zehn Tage und die Lichter gehen aus.
    Ich kann nur diesen Blick aushalten und so tun, als ob ich verstünde.
    »Den Weibern hab ich den Saft schon abgedreht.« Kolja hält die Pause nicht durch. »Weil, untertags stellen wir den Dieselmotor ab, und jetzt zetern die … Können nämlich ihre
Wilde Rose
45 nicht sehen … Hassen mich … Aber die Rechnung ist nicht überwiesen … Und es gibt keine Lösung. Wenn wir den Diesel mit Rentierfleisch bezahlen, dann kommt uns das sauteuer. Dann nimmt uns das Kombinat das Fleisch nicht mehr ab, dann sagen die, fresst es selber, ihr Hurenböcke …«
    Der Kraftausdruck veranlasst Kolja zu einer lakonischen Schlussbemerkung: »So ist das.«
    In diesem Moment klopft es an der Tür, und im Rahmen erscheint der kleinwinzige Mann mit der untergeklemmten Aktenmappe, der offenbar sein Ziel zu guter Letzt endlich erreicht hat – gefolgt von zwei Matrosen mit Papieren, die besagen, dass der Trockenfrachter
Kondrati Bulawin
vor der Insel mit einer Ladung Kohle auf Reede liegt, die so schnell wie möglich gelöscht werden muss.
    Kolja reißt seine Wattejacke vom Nagel, setzt die gesteppte Monteursmütze auf und geht, das kaputte Bein nachziehend, in die Nacht hinaus, um den ersten Dreißigtonnenponton Kohle in Empfang zu nehmen. Bei Flut. Allein.
    Nacht. Im Hotel. Disco-Gedröhn aus dem Klub. Auf der Grenze zum Schlaf drängen sich in den feinen Spalt zwischen Traum und Wirklichkeit Bilder, aus denen die Insel sich puzzleartig zusammenzusetzen versucht. Aber es gelingt nicht – die Bilder verfugen sich nicht, fallen auseinander, mischen sich, gruppieren sich neu. Die ersten Ablichtungen des Gedächtnisses: das Meer, der Sand, eine Molluske. Eine Karbasse auf dem Strand. Unser mühsames Vorwärtsgehen im gelben Wasser. Die Tundra wie ein Notenblatt, Anfang einer Musik: Der Klang von Kolgujew ist tief, dumpf, leicht gefroren. Die unzähligen Öffnungen der Tundra: Quellen, Moorlöcher, Seen – Augen, mit denen die Erde gen Himmel sieht, ihn einlädt, sich in ihnen widerzuspiegeln. Auf der flachen Ebene ist es zum Himmel nicht weiter als auf dem Gipfel eines Berges. Die Altgläubigen-Gräber – wie vermauerte Türen, hinter denen einst die Einsiedler, all ihre Geheimnisse mit sich nehmend, verschwanden. Auf der Insel gibt es drei Flüsschen mit dem »Ruhestätte«-Namen, drei »Pokojnizkajas« – aber heißt das, dass die letzten Asketen hier wenigstens Ruhe fanden?
    Der von mir dem Idol aus der Gauloise hingekrümelte Tabak. Der Morgen an der oberen Gorelaja mit dem Altschneeplacken im Hügelschatten, der vergissmeinnichtblaue Hang des Siirtja-Sede.
    Hier ist etwas noch nicht zu Ende erzählt.
    Das Weidwerk des Zaren, der Ring am Bein des Falken, die Ringe der Zeit. Eine gespensterhafte Flotte, die auf der Suche nach China an Kolgujews Sandbänken vorübergleitet. An Deck, in prunkvollen Wämsern, holländische Herzöge, die von einem Leben als Gesandte im Reich der Mitte träumen; in den Frachträumen Rüstungen, mechanische Uhren, Musketen … Das in Wasser aufgelöste Gelbe eines hartgekochten Gänseeis: »nenzischer Tee«, der Erinnerung jenes Schotten nach, dessen Name wir in den Raum gestreut haben. Greisinnen, die im Mörser zerstoßene, mit Holzasche vermischte Machorka schnupfen. Kostbare Bilder aus dem Jahrhundert des Nomadenlebens.
    Seeadler und Rabe, die über der grenzenlosen Weite segeln. Wind. Einmal verknäulte der Wind eine Schar Schneehühner, die von der Insel nach Süden flogen, und fegte sie hinunter ins Meer. Hubschrauberpiloten sahen sie: Das Wasser der Tschjoschskaja-Bucht war weiß, wie verschneit.
    Das Ren. Demjans Gesicht, Demjans Stimme. Der Lagerplatz auf dem Plateau. Das rostzerfressene Eisen, das brüchige Holz. Ob die Verschalungen der Baloks, die Schlitten oder Werkzeuggriffe – alles ist aus einem schon seine Zeit auf den Wellen umhergetriebenen, von Fäulnis angeknabberten, altersschwachen Holz. Nirgends auch nur ein lebendiges, harziges Stück –
das
, ja, das hat mich wirklich verblüfft! Und der Hunger. Drei Gestalten, die vorm Ofen kauern und an einem aufgequollenen, bluttriefenden Bastgeweih herumsäbeln, es kurz in die Flamme halten und dann, das Blut auslutschend, benagen. Eine Geweihstange für drei …
    Ich habe offensichtlich damals, als ich in der Tundra zufällig in die

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