Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
eines Tages in die Welt zurückzukehren, die sich an dich nicht erinnert, und in ihr einfach der zu sein, der du sein wolltest.
Sein
. Ein wichtiges Wort.
Nicht für dich, Petka, den an Hoffnungen reichen, an Zukunft überreichen jungen Mann. Was soll dir jetzt, bei deinem Kapital auf dem Zeitkonto, der
Fliehende
? Was weißt du von ihm?
Nichts.
Schlaf also, oder tu wenigstens so, und schweig. Nicht, dass du am Ende noch fragst, warum er davonläuft, und ich Dinge erklären muss, die zu verstehen du noch nicht imstande bist. Denn, weißt du, davon läuft man immer vor ein und demselben: den Hoffnungen, die sich nicht verwirklicht haben, einer gescheiterten, unglücklichen Liebe, die nichts mehr nähren kann, einem Dasein, das man sich scheinbar selber aufgebaut hat, indes es in Wahrheit ein selbsterbautes Gefängnis ist, ein komfortables zwar, mit Blick auf die Wand des Nachbarhauses, zu bezahlen jedoch mit Aberstunden an Lebenszeit. Vor Begabungen auch, die nicht verwirklicht wurden – dir das jetzt zu erklären, da du gerade die Schule beendet hast und dir die ganze Welt gehört, ist am schwierigsten. Aber warte nur ein paar Jahre, sagen wir, siebzehn – und du wirst den Fliehenden mit ganz anderen Augen betrachten. Er ist ein junger Mann wie du, der auf seinen Kindheitspfaden dasselbe Vermächtnis erhalten hat: »Die Welt ist herrlich, alles ist erlaubt, greif nur zu!«
Bloß hat er keine Zeit mehr. Und so sitzt er auf dem Boden vor einem Haufen Papiere, die er durchsieht. Das hier ist nicht schlecht, das da auch nicht … Diese Stücke – Gedankenfragmente, malerische Versuche, Ansätze von Gedichten – sind alles Überbleibsel eines Lebensvorwurfs, alles Spuren der Hoffnung. Aus ihr speiste sich die junge Liebe, durch sie lebte der Glaube an die Freiheit und die Begabung, die jedem Menschen zugemessen sei … Aber die Freiheit hat sich verflüchtigt und die Begabung wurde verzettelt, und die Hoffnung lebt in der letzten, verzweifelten, im Grunde durch nichts gerechtfertigten Annahme, es könne vielleicht noch gelingen,
irgendwo anders hin
zu springen zwischen den beiden riesigen felsgleichen Zeitmassiven »jetzt« und »nie« hindurch, deren Spanne rasant enger und enger wird …
Und so wird dieser Mann, der es nicht ausgehalten hat und sich durch diesen Spalt zu zwängen beschloss, auf die Gefahr hin, eingeklemmt und zerquetscht zu werden, zum Fliehenden. Es heißt, man könne vor sich selber nicht davonlaufen. Aber was heißt das? Überleg. Davon läuft man vor der Vergangenheit. Und wenn da nichts ist, was einen belastet, dann kann man sich doch wohl von ihr losreißen. Und ein neues Leben beginnen. In siebzehn Jahren sage ich dir, falls du magst, wann man unbedingt fliehen muss, von der Frage verstehe ich nämlich was, ich war selber sechs Jahre auf der Flucht. Aber von meiner Vergangenheit losreißen konnte ich mich erst, als ich mein Davonlaufen in eine Forschungsreise verwandelte …
Bis das geschah, verlebte ich ein paar wirklich sehr unglückliche Jahre. Vielleicht entsteht im Leser der Eindruck, ich würde von einem Erwachsenen erzählen, der als Kind nicht genügend Robinson Crusoe gespielt und deshalb eine Macke hat, aber es ging in meinem Fall wirklich um Leben und Tod. Ich lebte in einem wachsenden Gefühl der Katastrophe und spürte verzweifelt, dass ich meinen Leitfaden verloren hatte und nicht wusste, in welche Richtung weitergehen. Meine Scheidung und besonders alles, was ihr vorausging, hatten eine verheerende Wirkung auf mich gehabt: Ich wusste, ich hatte die größte
menschliche
Niederlage erlitten, ich hatte etwas unterlassen, hatte zumindest die Frau, die ich liebte und mit der ich annähernd sieben Jahre zusammenlebte, von
nichts
überzeugen können, mein Leben war nicht
überzeugend
. In den anderthalb Jahren, die ich alleinblieb, las ich einen Haufen philosophischer und psychologischer Bücher, schrieb aber nicht eine vernünftige Zeile. Mein schriftstellerisches Talent hatte mich verlassen. Wahrscheinlich wollte es nicht dem Schmerz und der Verzweiflung dienen, die ich, bewusst oder unbewusst, auf die eine oder andere Weise auszudrücken versuchte. Ich trank viel. Von den vier längeren literarischen Texten aus jener Zeit taugte keiner etwas. Ich begriff es selbst und warf zwei davon noch vor ihrer Fertigstellung mit ungeheurer Erleichterung in den Papierkorb …
Hier, zu diesem Zeitpunkt, tauchte in meinem Tagebuch das Motiv der Flucht auf, wurde zum beständigen, immer
Weitere Kostenlose Bücher