Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
würde. Sie glaubte an mich.
Irgendwann werde ich dir von ihr erzählen, Petja, dann offenbare ich dir auch, warum wir tatsächlich hinauszogen. Wir waren sehr verschieden, du und ich, das zeigte sich gleich zu Beginn, doch mit der Zeit hatten wir Gelegenheit, uns aneinander zu gewöhnen. Und ich wurde nicht enttäuscht. Ich habe es kein einziges Mal bereut, dass gerade du mitgekommen bist. Du warst stark und zäh. Und hast mir kein einziges Mal vorgeworfen, dich in ein sinnloses Unterfangen hineingezogen zu haben. Außerdem wusste ich, dass du es interessant fandest – das war das Allerwichtigste. Und schließlich wusste ich dich immer an meiner Seite. Ich wusste, wenn es mir beschissen ginge, dann würde ich es dir nicht sagen, aber du wärest an meiner Seite.
Und das war, nach meiner ersten Reise, nicht gerade unwesentlich.
Nicht, dass mir das Alleinreisen nicht gefallen hätte … Nur hatte es sich als viel schwieriger und unerbittlicher herausgestellt, als ich mir hatte vorstellen können. Und zudem ähnelte es zu sehr einer Flucht …
»Einer was?«, fragst du spöttisch, wie immer, wenn du etwas nicht ganz verstehst.
»Einer Flucht, einer Flucht …«
Nur Geduld, ich werde es dir irgendwann erzählen … Aber willst du jetzt schon wissen, wofür ich dir mein Leben lang dankbar sein werde? Du wirst es nicht glauben. Und schon gar nicht dich daran erinnern. Es war an unserem Ankunftstag in Narjan-Mar, als wir innerhalb weniger Stunden einen Abstand übersprangen, den zu überwinden ich allein beinah eine Woche benötigt hatte. Herrliches Wetter, blauer Himmel, kontrastreiches »märzliches« boreales Licht, eingetaucht darin: das Sandmeer am Rand der Stadt; Fünfgeschosser, Baracken; eine unvertraute Waldsilhouette, da (anders als in den Breitengraden, aus denen wir kommen) von spitzen Lärchenwipfeln überzackt. Hinten in der Ferne die Petschora: blauschimmernder kettenpanzeriger Stahl, der große Fahrt, platschende Wellen, Seewind verspricht … Ich habe vergessen, was wir machten – wahrscheinlich besuchten wir Korepanow, beugten uns noch einmal über die Karte, um mögliche Varianten der Route unserer Wanderung durchzuspielen.
Dann kehrten wir ins Hotel zurück, verhängten wegen der direkten Sonne so gut es ging das Fenster und legten uns hin; ich wollte noch etwas lesen, du schienst sofort einzuschlafen, lächelnd – aber plötzlich sagtest du laut und klar, vielleicht im Schlaf, vielleicht auch in dem ihm vorausgehenden zauberischen Zustand:
»Es ist gut …«
Dafür, für dieses »Es ist gut«, Petja, werde ich dir zeit meines Lebens dankbar sein: Denn auch dir war folglich das trostlose Paradies meines Herzens teuer, dieses unerklärliche Paradies des näherkommenden Nordens, des nach allen Himmelsrichtungen weit geöffneten Raums, eines Raums voll grandioser, symphonischer Schönheit und echtem Todesschrecken: dem erschreckenden Dahinsterben von Menschen, dem gegenüber das Umherirren des Fliehenden, von dem zu berichten ich dir versprochen habe, sich als Komödie erweist, mein Freund.
II
DAS BUCH DER FLUCHT
Zwischen »jetzt« und »nie«
Womit aber die Komödie beginnen? Sagen wir, damit, dass Petka einstweilen schläft. Zum zweiten Mal schon lasse ich ihn schlafend am Rand der Erzählung zurück, aber was soll ich machen: Diese Komödie ist nichts für die Ohren eines sechzehnjährigen jungen Mannes. Es gibt Dinge, die werden erst mit den ins Land gehenden Jahren komisch. Und auch dann nur, wenn sie nicht umsonst ins Land gegangen sind, sondern du dich in deinem Erwachsensein nicht wie in einem Verhängnis verankert hast, sondern wie in der Fähigkeit, einem gewählten Weg zu folgen. Wenn die Welt dich kriegen wollte, aber nicht gekriegt hat. Und du dich … wie heißt es heute so schön? … hast
realisieren
können. Ja es wäre schon viel, wenn es einem gelänge, einfach zu
sein
. Warum dann nicht im Kreis nahestehender Menschen sich an die Vorbereitung der eigenen Flucht erinnern, besonders, wenn sie erfolgreich war? Wie du Fallen und Ködern ausgewichen bist und die fettesten Brocken auf deinem Weg als Lockspeise erkannt hast, so dass du, zitternd angesichts der Versuchungen, den Bauch fester eingezogen und die bleierne Spucke heruntergeschluckt hast und dein Davonlaufen und die ganze Welt und dich selber verflucht, wie du aber am Schluss doch die Verhältnisse hast überlisten, die Spuren verwischen, in die Einöde gehen, dich selber vergessen und vergessen machen können, um
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