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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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in sich verschlungenen Struktur, wie sie dem Raum der Tundra eigen ist, aus dem sie hervorging.
    Aber eine Rechtfertigung für jenen Tag fand ich trotzdem. Es ist eine ganz kurze Geschichte.
    45 Die mexikanische Telenovela war eine der ersten Serien, die noch zu Zeiten der UdSSR im russischen Fernsehen lief. [Anm.d.Ü]

Der Sohn des Schamanen
    Im Jahr 1927 ermordete jemand aus einem anderen Klan seinen Vater. Der Mörder stach sieben Mal mit dem Messer zu – beim siebten traf er den Vater tödlich und heulte vor triumphaler Freude auf. Zu der Tat überredet hatten ihn Leute aus der
Stadt
. Sie waren herbeordert worden, die Bereitstellung von Robbenhäuten und Fleisch durch die Tundrabewohner zu organisieren. Sein Vater, der letzte Schamane der Insel, ging ihnen aus dem Weg, aber er fiel ihnen trotzdem ins Auge.
    Es waren fröhliche, kräftige Kerle. Sie benahmen sich auf der Insel wie die Herren, nur langweilten sie sich ein bisschen, weshalb sie aus Langeweile Spiritus tranken und einmal aus Langeweile auch einen Schwachsinnigen abfüllten und ihm sagten: »Stech ihn ab. Ist er wirklich Schamane, dann stirbt er nicht. Guck, was er taugt.« Und der Mann, geistesschwach und betrunken, zog los. Und fand den Schamanen in einem Tschum, beim Ritual am Bett einer Kranken. Und ermordete ihn.
    Die Kranke blieb für immer stumm, denn ihre Stimme hatte sie verlassen und der Schamane hatte sein Ritual nicht abgeschlossen.
    Er wurde mit dem Gesicht nach unten begraben, wie jeder Angehörige seines Volkes, denn ein Schamane ist nichts weiter als ein Mensch. Bloß weiß er ein tiefes Geheimnis über das Unbekannte, das über die Menschen gebreitet ist wie der Himmel, aber durch das Wort nicht erfass- oder sagbar ist, obgleich es (wie der Himmel) gespürt und gehört und sogar gesehen werden kann, denn es gibt seine leisen Stimmen und verborgenen Dinge. Und alles ist durch das Unbekannte verbunden. Vielleicht ist der Schamane nur ein Ohr, ein hellhöriges, wie das des Polarfuchses. Oder ein Auge, scharf wie das der Eule. Denn er selbst ist innerlich Eule und Polarfuchs, und Ren und Wind und Sterne und Meer. Denn im Unbekannten sind wir alle eins, und nicht nur Sonne und Mond sind miteinander verbunden wie Tag und Nacht, sondern auch der Mensch ist mit ihnen verbunden, wie mit aller lebendigen Kreatur, auch jedem Fisch im Meer, und auch mit dem Sumpfgras und sogar mit dem erdfarbenen Eis des Dauerfrostbodens. Und wenn der Mensch schwach wird und seine Schwäche zu Gier und Bosheit und Ungeduld, dann senkt sich ein Fluch auf seinen Klan, und die Tundra verkümmert, wird fruchtlos wie eine harte Säuferin, und alle Schönheit und alles Leben schwindet in ihr.
    Als sein Vater ermordet wurde, war er neun Jahre alt. Etwas von ihm zu lernen hatte er keine Zeit gehabt, denn die Lehrzeit des Schamanen ist lang. Und die Trommel (Gang ins Unbekannte und zugleich großes Ohr) erhält der Novize erst, wenn er selbst ein wenig zu hören gelernt und den Sinn von Ehrfurcht und Güte verstanden hat.
    Er aber war einfach ein Junge, grausam in Empfang genommen von der neuen Zeit, als die Menschen das Wissen in Büchern zu suchen begannen und sich verirrten, und die Weisheit des Schamanen belachten, denn sie war mühsam für die Schwachen und lächerlich in den Augen der Unverständigen.
    Er wurde zur Spott- und Randfigur.
    Als dort, wo die Menschen der Tundra ihr Sommerlager aufzuschlagen pflegten, das Dorf gebaut wurde – nach dem großen Krieg, von Soldaten –, da wurde er als Abtrittreiniger abgestellt, Niedrigster unter den Menschen seines Volkes.
    Jetzt, da er gelähmt ist und es im Dorf keinen mehr gibt, der die Abtritte leert, weshalb die Fäkalien per Eimer gleich neben den Häusern über die Steilküste entsorgt werden – dort, wo der Strand mit zerhauenen Rentierschädeln und von Hunden ausgesogenen Knochen übersät ist –, zeigt sich, wie groß er war in seiner erniedrigenden tagtäglichen Heldentat. Im Vergleich zu ihm war Herkules einfach ein findiges Schlitzohr. Er aber war ein Heros, er reinigte das Universum vom Schmutz, er war ein kleines, penetrant riechendes, aber hartnäckiges Geschöpf, denn er lud alle Unreinigkeit seines Volks auf sich, allen Kleinmut seines Hohns. Es fällt mir schwer den Spottnamen niederzuschreiben, mit dem sie ihn belegten, denn ich habe einen ganz anderen Menschen gesehen, einen, der weit ins staunende Alter fortgegangen ist, wenn sich das Wesen der Dinge dem inneren Auge ansatzweise auftut. Aber

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