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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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für Geld schmeißen die ins Moor?«, staunte die Alte. Er darauf: »Warts ab.« Er holte die Felle, sortierte und gerbte sie und flocht Wurfseile daraus, die er den Hirten für 250 Rubel das Stück verkaufte beziehungsweise gegen ein Ren eintauschte.
    »Die reden und tun nichts«, sagte Nikita. »Früher haben sich die Leute zumindest dafür geschämt.«
    Es gab mal eine Zeit, da drehten die Dampfer nach Nowaja Semlja vor Kolgujew bei. Da hörte er eines Tages zwei Schamanen, den hiesigen und den von Nowaja Semlja, wie sie sich streiten, wer der stärkere ist. »Kennst du die Kossaja-Kuppe? Durch die geh ich mitten durch«, sagt der eine. Und der andere: »Siehst du die Kuppe da? Die feg ich weg, dass nur noch Sand übrigbleibt …« Da merkten sie, dass Nikita sie beobachtet, und verstummten. »Nach dem dritten Gläschen ist das halbe Dorf diese Sorte Schamane. Echte Schamanen reden nicht über ihre Kraft. Schweigen überhaupt.«
    Eine Geschichte zum Neid: Nikita gab Kostja mal zwei Rene zum Transport von Holzstämmen. Der lud drei Stämme auf, peitschte auf die Rene ein, die scheuen, der Schlitten kippt um und geht entzwei. Kostja tobte, spannte um, warf einen Blick auf Nikita. »Wart nur«, sagte er, »jetzt hetz ich dir deine Tiere zu Tode.« Und jagte los. Nikitas Rene waren stark, ihnen ist nichts passiert, Aber Kostjas Tier, das dritte im Gespann, das hat nachher auf zwei Beinen gehinkt, so wie Kostja es gejagt hat.
    Und wenn er lachen wollte, erzählte Nikita gern die Geschichte von Kostja auf der Jagd. Es war im Hungerjahr, als er einmal dem unglückseligen Kerl ein Gespann gab, damit er sich in der Tundra was erlegt. Den ganzen Tag war Kostja unterwegs, kommt aber mit leeren Händen zurück. »Was, nicht mal eine Ente?« – »Nein.« – »Auch kein Schneehuhn?!« – »Nein.« Da stellte sich raus, dass Kostja die ganze Zeit auf dem Schlitten hocken geblieben ist. Aus Faulheit, herunterzusteigen …
    Aus dem Lautsprecher dringt ein heiseres Lachen … Und kein anderes, das einstimmt. Niemand versteht mehr den Wert einer Anekdote aus dem Mund eines Helden …
    Nikita hat sich auch als Hirte in der Sowchose versucht, aber können denn Hunde einen ausgepichten Wolf in ihrem Rudel akzeptieren? Er war außerstande, zu klauen und die Sowchose zu betrügen, weshalb er sich in der Brigade nicht eingelebt hat. Er ist zum Vorsitzenden gegangen: »Ich kann nur auf meine Weise arbeiten. Auf eure geht nicht.« Von da an führte die Sowchose ihn als Jäger und Hilfsarbeiter. Schließlich kam der Tag, an dem sie ihn ins Büro riefen, wegen der Rente. Dreizehn Rubel.
    Er überlegte.
    »Dreizehn Rubel? Da arbeite ich eine Stunde für.«
    Er ging zum Abfalleimer, zerriss das Rentenbuch und warf es weg. Die Rente haben sie ihm trotzdem ins Haus gebracht. Er legte alles in die Schublade, hat nicht einen Rubel genommen, gabs später dem Enkel für Spielzeug und ein Fahrrad. Er selber – ist auf die Jagd gegangen, hat Hunde- und Rentierfelle bearbeitet, den Kamus, das Huffell der Rene, gegerbt und Stiefel draus genäht, Torbassy und Unty. Er hat sein Leben den Kräften gemäß gelebt. Hat all seine Kräfte verausgabt, hergegeben, verbraucht, bis er keine mehr besaß.
    Drei Tage vor seinem Tod wollte Filipp, sein Sohn, auf die Jagd gehen.
    »Nur zu«, sagte der Vater, »lass mich aber die Gans fürs Mittagessen rupfen …«
    »Wie denn, du kannst ja doch nicht sitzen …«
    »Soll ich einfach daliegen und auf den Tod warten?«, fragte Nikita. »Ich lieg lieber und rupfe …«
    Das Leben ist die elementare Kraft des Helden. Und als habe er das gespürt, wollte Nikita die Sterbephase, die sich bei Schwachen bisweilen mit Bombast und besonderer Feierlichkeit über lange Jahre hinzieht, möglichst rasch und unmerklich durchlaufen. Durch sie hindurchtauchen und fortgehen – wie auf die Jagd, nichts zurücklassend als das alte Gewehr, ein Säckchen mit Zündkapseln, Kupferhülsen und der Form zum Kugelgießen und eine leere Eisenlade. Und diese eigenartige Erinnerung an ihn, die in schwierigen Minuten des Lebens seine Nachkommen aufzurichten und ihnen Mut einzugeben vermag: Er geht fort, das lange Gewehr über der Schulter, die rote Maliza riemengegürtet, und Tau funkelt im langen grauen Haar … Du sagst: »Seltsam, dass nach allem, was war, die Leute ihn so in Erinnerung haben …« Und ich gebe dir Recht. Aber genau so haben sie ihn in Erinnerung: Wie immer ohne Mütze dem Schneesturm entgegengehend.
    Er starb 1993. 47
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