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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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zechte. So waren die beiden, die da bei uns auf der Matte standen, ziemlich betrunken. Und im Übrigen galant.
    »Etwas Entwickler für die Fotozellen des Fotografen«, kalauerte Oleg und zog aus dem Hemdausschnitt eine bläuliche Spiritusflasche hervor. Er war ein kerniger, rotgesichtiger Bursche – ehrlich gesagt hätte ich nie gedacht, dass Tuberkulosekranke so blühend aussehen können. Der Unternehmer drückte sich mit scheuem Lächeln und über breiter Brust klaffendem Hemd in den Türrahmen.
    Wir gaben uns zugeknöpft: lachten nicht über den Scherz, lehnten den angebotenen Schluck ab, setzten eine sehr geschäftige Miene auf. Das gewünschte Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten: Wir machten auf die beiden Feierlustigen den sehr negativen Eindruck von zwei hartherzigen, kalten, arroganten Typen. Sie unternahmen keinen weiteren Versuch, mit uns eine gemeinsame Sprache zu finden, boten bloß noch an, den Sprit, der sie alle gemacht hatte, gegen Wodka einzutauschen, doch als sie erfuhren, dass wir keinen hatten, räumten sie enttäuscht das Feld. Wenig später stellte ich fest, dass mein Messer verschwunden war.
    Dann kam diese Frau, die etwas von einem angeschossenen schwarzen Vogel hatte. Lang scharrte sie, kaum hörbar, mit den Federn ihres zerrissenen Kleids durch den Korridor. Dann näherte sie sich unserer Tür, betastete, beschabte sie. Ich machte auf.
    »Ich habe Ihnen eine Flaumfeder mitgebracht«, sagte sie mit klangvoller Stimme.
    »Wir brauchen keine Flaumfeder«, schnitt ich ihr das Wort ab.
    Sie hielt eine Tasche in der Hand, machte den Reißverschluss auf und vergrub ihre Hand in etwas Dunklem.
    »Da ist alles für eine Jäthacke drin, genau für eine Jäthacke …«
    Ein seltsames Gesicht, länglich, mit vorstehenden Backenknochen – beinah emotionslos, wären da nicht die Augen gewesen, dunkel, feucht, flehend. Ein Gesicht, das einmal sehr schön gewesen sein muss, so ausdrucksstark wie es noch jetzt im Rahmen seines langen, graumeliert-schwarzen Haars war – aber die Züge, die einer gespannten Feder glichen, verbargen anscheinend einen schmerzlichen Krampf.
    »Wir brauchen nichts. Wir haben nichts. Weder Geld noch Wodka«, sagte ich mit totalitärem Zack, weil ich wusste, dass ein anderer Ton nicht durchdringen würde.
    Im selben Moment entdeckte ich den Ring an ihrer Hand. »Schwere Ringe aus weißem und gelbem Metall«, heißt es bei Trevor-Battye. Ein alter Ring, vielleicht aus Zinn, doch eher aus Silber – einem sehr alten, vorindustriell gegossenen Silber, ohne Stempel, unpunziert. Auf der Halbinsel Kanin wird ein wenig Silber gewonnen, und wer weiß, vielleicht gab es dort ja früher einmal einen Meister? Um die Geschichte dieses Rings zu erfahren – vielleicht der einzige nicht verlorene, eingetauschte, vertrunkene –, hätte ich etwas tun müssen, diesem schwarzen Vogel irgendetwas sagen, mit ihm eine Handvoll Körner teilen, aber dieser Krampf, dieser an die Oberfläche drängende Krampf in ihrem Gesicht, er verschreckte mich. Ich wollte an dieses Unglück und Weh nicht rühren, wollte sie nicht an mich heranlassen.
    Ich hatte hier ohnehin schon zu viel davon aufgenommen.
    In mir tobte lautlos ein Sturm. Ich stand schweigend in der Tür.
    Sie interpretierte mein Schweigen als unwiderrufliche Zurückweisung und ging, irgendetwas schackernd, federnscharrend davon …
    Eine Verrückte.
    Im Winter hatte sich ihr Sohn umgebracht.
    Ich erfuhr davon am nächsten Morgen.
    Hätte ich es am Abend gewusst, ich hätte ihr diese verfluchte Flaumfeder abgekauft, denn ihr Sohn, er war … der beeindruckendste junge Mann, den ich je auf der Insel gesehen habe. Er hätte ein Held wie Nikita werden können, doch kurz vor Anbruch der Polarnacht verfinsterte sich sein Gemüt, und mit seinem Tod wurde es auf der Insel noch düsterer. Im Gefieder seiner Mutter gibt es nur schwarze Federn …
    Ich wollte von der Insel verschwinden, ohne mich zu besudeln oder zu beschädigen. Leider versteht man immer zu spät, dass das unmöglich ist. Aber vor allem unmoralisch. Denn wer in ein Katastrophengebiet gerät, muss irgendetwas mit den Menschen teilen. Wenigstens Worte. Doch selbst um die tat es mir damals leid, und ich war ehrlich erbost, dass wieder jemand bei uns angetanzt kam.
    Ich riss die Tür auf. Vor mir stand ein Mann in sagenhaft speckiger, grünwattierter Baubataillonjacke und ebenso speckiger Kaninchenfellmütze, knabenhaft dünn und zugleich nicht mehr jung, mit einem Gesicht beinah so

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