Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
dass Nikita auf der Stelle die Flaschen wegräumt. Aber der fragte nur: »Wo ist deine Tasche?«, packte die Flaschen zurück und brachte den Besucher mit einem Aufwiedersehn zur Tür. Und mit dem Sohn ist er ans Meer gegangen, den Sonnenaufgang betrachten.
Und was die Jagd betrifft, da hatte er auch sein Prinzip: Sobald der erste Schnee fällt, muss der Jäger sich von seiner Frau fernhalten. Deren Zärtlichkeit kann schlimme Folgen haben, wenn sich ein Tier nähert, des Jägers Sinne müssen genauso scharf sein wie die des Tieres.
Manchmal stimmten die anderen Jäger das alte Lied an: »Warum machst du Beute, Nikita, und wir nicht?« – »Tja, wie oft hab ich euch nicht gesagt: Haltet euch von der Frau fern!«
Dann hatte er noch ein eisernes Prinzip: In seinem Leben hat er nie ein Stück Renfleisch gegen Wodka eingetauscht. Denn wenn das Renvolk anfängt, die Wurzel seines Lebens zu kappen, erwartet es der Untergang.
Er erinnerte sich noch an die Zeit, als seine Familie neue Rene bekam. Bei einer Vereisung hatten sie alle Tiere verloren, und Timofej hatte sich mit seinen Söhnen als Hirte bei den Sumarokows verdungen. Er verdiente viel Papiergeld. Das gab er dann dem Kaufmann Ludnikow, damit der es in Goldgeld wechselt. Und als Ludnikow ihm im Jahr drauf das Gold gebracht hat, da hat sich Timofej bei den Sumarokows ein paar Dutzend ausgezeichneter Zuchtkühe gekauft und ihnen gleich die Ohren gebrandmarkt. Also, waren sozusagen auch goldgeprägt, die Ardejew’schen Rene. Stolz war Nikita auf die Tiere, denn auf der Insel gab es keine, die ihnen gleichkamen: schnelle, große, zähe Tiere. Im Handumdrehen holte man mit denen einen Fuchs ein. Einmal hat Nikita sogar einen Wolf eingeholt. Er besaß ein Ren, das war genauso stark wie ein Pferd. Ganze Holzstämme hat er mit ihm transportiert, fand bloß nie eines zum Zuschirren, weil es jedes andere an Kraft überboten hat.
Seine Lasttiere liebte Nikita, außer ihm konnte nur sein Sohn sie dirigieren, wenn sie losliefen, funkelte der Schnee nur so, und bis sie sich richtig warmgelaufen hatten, zogen sie derart, dass einem die Luft wegblieb, und wenn du sie zügeln wolltest, sind sie regelrecht rasend geworden.
Ja, und dann kam das Jahr neunundfünfzig. Filipp kehrte aus dem Internat zum Vater zurück. Kaum wiederzuerkennen.
»Und wo sind unsere Rene?«
»Wir besitzen keine Rene mehr. Sie haben eine Sowchose aufgemacht. Der gehört jetzt alles …«
»Und die Lasttiere, meine Lieblinge?«
»Die sind uns geblieben.«
Dann erzählte der Vater, wie alles war. Die Sauf brüder aus dem Dorf kamen und freuten sich: »Jetzt, Nikita, musst du deine Tiere hergeben! Jetzt ziehst du dich nicht aus der Schlinge …«
»In Ordnung«, sagte Nikita. Aber er beschloss: Niemals! Er trieb die Herde in die Tundra auf eine runde Kuppe und griff zur Wurfschlinge … Siebenundneunzig erstklassige Tiere, von denen jedes fünf aus der Sowchose wert war, hat er da oben geschlachtet. Die Nichtstuer hatten ihm sein Leben genommen – aber er wollte nicht, dass sie über ihn den Sieg davontrugen. So endet die Geschichte von dem alten Gold: Das letzte versickerte in Form von Rentierblut in der Erde …
Damals sagte Nikita zu seinem Sohn: »Ich hab gehört, auf Nowaja Semlja sollen die Leute mit Hundeschlitten fahren. Da werden wir wohl eine Hundezucht aufmachen müssen.« Dann sprachen sie ein ernstes Wort miteinander: »Also ich denke, Filipp, mit den Renen, das wird nichts mehr. Du musst was lernen, irgendeinen russischen Beruf …«
Filipp Niktisch wurde zunächst Werklehrer, dann Künstler. Kurz bevor sein Vater starb, fuhr er nach Kolgujew und nahm Nikitas Erzählungen mit dem Kassettenrekorder auf. So konnte ich dessen Stimme hören, die tiefe Stimme eines starken Menschen, die hin und wieder von einem kräftigen, typischen Raucherhusten unterbrochen wurde, aber nicht brüchig, ja nicht einmal alt klang, und in der nicht nur nichts Klagendes durchschimmerte über das schwere und erschöpfende Leben, das hinter ihm lag, sondern im Gegenteil etwas Heiter-Spöttisches mitschwang, wenn Nikita von denen erzählte, die zeit seines Lebens wütend auf ihn waren.
»Trottel«, sagte er. »Sie haben mir alles weggenommen, und trotzdem war ich in ihren Augen immer ein Reicher. Sie haben meine Rene konfisziert – aber wozu? Eines Tages lagen im Moor Felle: weggeworfen.«
Nikita geht nach Hause: »Frau, schnell den Tee, die Sowchose hat einen Haufen Geld ins Moor geworfen.« – »Wie, was
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