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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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Nenzisch: Stange zum Antreiben der Rentiere. [Anm.d.Ü.]
    47 Siehe »Das Buch der beigelegten Seiten«, V.

Das Messer
    Die letzte Nacht in Bugrino.
    Tagsüber waren wir, damit wir nicht tatenlos herumsaßen, zum Gemeinderat und zum Feldscher- und Hebammenpunkt gegangen, um statistisches Material für einen soziologischen Abriss zu besorgen, dann tranken wir nacheinander mit Alik, Tolik und Grigori Iwanowitsch Tee, danach schabten wir die guten, aber unbearbeiteten Felle ab, die Alik uns geschenkt hatte, und dann, als wir das Abschaben und Plaudern leid waren, gingen wir für einen Spaziergang ans Meer und hatten das gute Gefühl, es ist vorbei – wir haben uns an Kolgujew satterlebt, es ist Zeit abzufliegen.
    Und da rührte sich tief innen, unerwartet schneidend, die Sehnsucht nach zu Hause, nach der gewohnten, sinnerfüllten, einzig-vertrauten Welt, die ich vor so langer Zeit verlassen hatte, dass sie anscheinend schon vergessen war. Aber man brauchte, wie sich zeigte, in Wahrheit bloß den Gedanken daran zuzulassen, schon ergreift das Herz Wiedersehensfreude. Ich werde in meine Welt als ein Anderer zurückkehren, mit unzähligen Gaben und unvorstellbar weit hinausgeschobenen Grenzen. Mit Etlichem auch, das ich der Liebsten schenken kann. Welche Geschichte erzähle ich ihr als Erstes?
    Die Gedanken an die Heimkehr waren derart köstlich, dass ich mir vor dem Einschlafen erlaubte, mich ihnen ein Weilchen hinzugeben. Ich stellte mir vor,
wie
es sein würde, und entschied sofort, dass ich, bekämen wir in Narjan-Mar gleich einen Flug, kein Telegramm schicken, sondern überraschend hereinschneien würde. Ich würde vom Flughafen direkt in die Wohnung fahren, alle Reisesachen waschen, duschen und am Abend – einem ungewöhnlich warmen Sommerabend, vielleicht auch einem etwas frischen, ja sogar nebligen, aber eben einem Sommerabend – den Vorortzug nehmen und auf die Datscha fahren, zu der Stunde, da die Liebste unsere Tochter ins Bett gebracht hat und allein ist. Auf dem Bahnsteig ist es schon Nacht, die ein wenig herben Spätsommergerüche brechen über mich herein, und der Banja-Geruch, der von den trockenen Birkenblättern im angrenzenden Wäldchen ausgeht, unterstreicht, dass die Zeit nicht stillstand, und ich gehe, laufe fast, und kann schon von weitem das Licht im Fensterchen der Datscha sehen … Hoffentlich ist sie nicht ausgegangen. Aber nein! In meinen Träumen stellte ich mir natürlich vor, dass die Liebste auf mich wartet, Tag und Nacht – und da erblicke ich sie auch schon im Spalt zwischen den Vorhanghälften: Traurig löst sie den Blick vom Buch und sieht zum schwarzen Fenster hin, ohne zu wissen, dass ich komme …
    Ich werde leise klopfen. Am Fenster, oder an der Tür? Verdammt, da klopft schon wieder wer an der Tür! Das heißt, schon nicht mehr, jemand hat aufgemacht, jetzt poltern sie im Dunkeln den Korridor hoch und runter … Ich höre mächtige, schwerfällige, betrunkene Schritte. Warum lässt sich dieses verdammte Hotel nicht abschließen, warum nur die Zimmertür! An die, da kannst du Gift drauf nehmen, werden sie so lange klopfen, bis du aufmachst … Während ich mich frage, wen es jetzt wieder herverschlagen hat, steige ich in meine Jeans, wütend und entschlossen, Tacheles zu reden.
    Nächtliche Besucher. Am Vortag kreuzten – wir waren eben von Kolja Odinzow zurück und wollten Ordnung in unsere Kleider, Herbarien, Aufzeichnungen bringen – die ersten zwei lautstark bei uns auf. Kurioserweise jener einstige Spiritusmagnat aus Narjan-Mar und sein böser Genius, der schwer trunksüchtige Oleg A., über den der Magnat seinerzeit in Abwesenheit die grausamste Strafe verhängt hatte, der aber gleichwohl am Leben und unversehrt war, ja seinem Gefährten ganz unzeremoniell den Arm um den Hals gelegt hatte. Der Unternehmer hatte das Unheil, das ihn ereilte, sichtlich nicht ertragen und jene Bahn beschritten, der auch die meisten Konsumenten seiner Ware folgten. Diese hatten den von Oleg unterschlagenen Sprit längst gepichelt und erschienen nun, da sie sahen, dass der Geschäftsmann weder der Konkurrenz, noch der Kälte, noch der feindseligen Haltung der Insulaner gewachsen war, vor ihm in Gestalt reuiger, doch wahrer Freunde, die sein Herzeleid bis zur bitteren Neige zu teilen bereit waren. In seiner Einsamkeit verwildert und des menschlichen Verkehrs entwöhnt, war der Handelsmann über diesen Ausgang der Sache so erfreut, dass er mit seinen neuen Freunden erst einmal kräftig einen

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