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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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dunkel wie das von Demjan, aus dem betrunkene schwarze Augen und eine eingehauene Nase hervorstachen. Die Frage nach Wodka schmetterte ich sofort ab. Mein eisiger Ton versetzte ihm wohl einen Dämpfer, er kuschte und glitt ins Zimmer. Er wollte einen Tee. Ich musste also in die Küche.
    Schon hatte er es sich im Sessel bequem gemacht.
    »Wer seid ihr eigentlich, Jungs?«
    Unverschämt, aufgedreht, betrunken – was war da zu erwarten.
    »Ich hol erst mal den Tee.«
    »Nein – wer seid ihr?«
    »Ich bin Fotograf.« Ich zog mich in meinen Schatten zurück.
    »Und fotografierst was?«
    »Natur.«
    »Also Vögelchen und Blümchen … Natur …« Und plötzlich, im Falsett: »Warum studieren alle die Natur, warum interessiert sich keiner für uns, die Menschen?«
    Naja, den Text kannte ich. Damit kriegte man mich nicht. Mein Panzer war stark in jener Nacht: Morgen würde der Hubschrauber gehen. Die Liebste wartete auf mich. Pfeif auf dieses Bugrino mit seinem ganzen delirierenden Säufergeschwätz. Ich will nicht noch mehr Leid aufnehmen, als sowieso schon in mich eingesickert ist. Ich packte ihn bei der Brust.
    »Wozu bist du hier reingeplatzt, he?«
    »Und wozu seid ihr hergekommen?«
    »Das ist wirklich nicht deine Angelegenheit.«
    »Und meine ist nicht eure. Und lass die Finger von mir, verstanden? Ich heiße Wladimir, Wladimir Ljubomirowitsch!«
    Er polterte herum, verschüttete Tee, forderte unsere Papiere, wollte eine Zigarette … Ich war schon drauf und dran, ihn rauszuwerfen, da fing dieses betrunkene Geschöpf, das sich gerade noch an seinem Unfug ergötzt hatte, plötzlich an, die Geschichte von einem wunderbaren Land zu erzählen … Ich hörte genauer hin. Natürlich: Es handelte sich um das Land der Kindheit. Das Reich der Kindheit, in dem es alles gab – einen mächtigen, klugen, reichen Großvater, ein solides Haus, Dukatengold, reiche Jagdbeute, eine sagenhaft schöne Mutter und einen Vater, Meeresjäger, den an Kühnheit und Können niemand übertraf und dessen Freund ihn heimtückisch ermordete aus tief eingewurzelter Eifersucht … Und ihn selbst, den kleinen Waka, der 1948 auf Nowaja Semlja zur Welt kam, wo er sechs glückliche Jahre verlebte, bis eines Tages alles zu Ende ging. Seine Kindheit endete schlagartig im Bauch eines Minensuchschiffs, auf dem er zusammen mit allen seinen Stammesgenossen fortgebracht wurde, als das Militär beschloss, aus Nowaja Semlja ein Atomtestgebiet zu machen. Seither wird sein Leben vom Unglück überschattet. Es gelang ihm einfach nicht, den zerschmetterten, das Märchenland seiner Kindheit zurückwerfenden Spiegel wieder zusammenzusetzen. Und es gibt keine Bilder, die ihn schützen könnten, kein linderndes Erinnern, keine Hoffnung. In den letzten fünfzig Jahren hat sich im Hohen Norden alles verändert. Und er, Wladimir, Waka, steht hilflos da vor all dem, was sich entwickelt hat, was ihm gegenüber gleichgültig ist und er nicht liebt.
    Als sei ihm das zu Bewusstsein gekommen, begann das Häuflein Mensch in seinem Sessel da zu weinen. Ich war auf alles vorbereitet – darauf nicht. Fremde Hilflosigkeit rührt mich, das ist meine Schwäche, zum Teufel nochmal, ich hatte einen Menschen vor mir! Einen Menschen, der wie wir alle Schutz und Wärme sucht, der Anteilnahme möchte und ein menschliches Leben, auch wenn er womöglich selbst schon nicht mehr dazu imstande ist. Er geht zugrunde, aber er ist ein Mensch. Mein Bruder als Mensch in dieser Welt. Wahrscheinlich hat er sein Leben nicht sehr glücklich eingerichtet, er ist arm und trinkt – trinkt schon lange, und seine Geschichte ist die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies; und ich bin nicht der Erste, dem er sie im Trunk erzählt. Und er wird sie weiter erzählen und weiter trinken, und zu Hause gibt es keinen blanken Heller und keinen Runken Brot, und er ist allen gegenüber schuldig: der Heimat gegenüber, dem Vorsitzenden, der Frau und natürlich sich selbst gegenüber – aber er ist ein Mensch. Und jetzt bittet, ja fordert er, dass wir ihn als Mensch annehmen und ihn anhören …
    Nun hatte er doch meinen Panzer durchbohrt.
    Als ich ihn hinausbegleitete, war der Himmel schon hell. Auf den Hotelstufen schnorrte er noch eine Zigarette, besah sich das blaue Gauloises-Päckchen mit dem Flügelhelm und bat plötzlich wie ein kleiner Junge:
    »Krieg ich die Verpackung …?«
    Die Verpackung …
    Herr im Himmel! Ich gab ihm das Päckchen mit den restlichen Zigaretten, und plötzlich umarmte ich ihn

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