Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
und spürte, während ich noch seinen Kopf zu mir heranzog, wie er, überrascht und nicht begreifend, was vorging, zurückwich.
Ich weiß ebenso wenig, woher diese überraschende Regung plötzlich in mir hochschwappte – offenbar hatte sich das
Brüderlichkeits
-Ventil notgeöffnet, jenes Bauteil im Gefühlsmechanismus des modernen Menschen, das aus dem Dampfzeitalter des Sentiments für den Fall überkommen ist, dass irgendeine unheimliche, unbeherrschbare archaische Empfindung hochbrodelt – etwas Gutes, das im normalen Leben verborgen bleibt, weil Ehrgeiz und andere, rationalere Gefühle den Druck in den Seelenzylindern zurückhalten.
Das Gefühl der Brüderlichkeit stirbt in uns ab. Ihm Ausdruck zu geben, ist absurd; noch absurder muss es sein, plötzlich zum Gegenstand einer solchen Gefühlsergießung zu werden – aber dergleichen Aufschwünge waren nicht so zahlreich in meinem Leben, als dass ich mich ihrer hätte schämen müssen …
Zurück im Hotelzimmer ließ ich mich mit dem Gefühl ins Bett fallen, dass jetzt alles hinter mir lag: diese Nacht und alle nächtlichen Besucher, das Schuldgefühl gegenüber einem, den du nicht weiter kennst, und gegenüber der Siedlung überhaupt, das untermischt war von einem Gefühl des Ekels …
Diese beiden Tage in Bugrino hatten mich einfach fertiggemacht. Ich dachte, dass ich morgen in Narjan-Mar doch eine Menge Bier brauchen würde, um das Dorf von den Glasplatten meiner Erinnerung zu spülen.
Da begann Petka sich zu bewegen und gab mir mit einem Hüsteln zu verstehen, dass er nicht schläft.
»Petka!«, rufe ich leise (denn vielleicht schlief er ja doch).
Er stützte sich auf einen Ellbogen. Etwas lässt ihm keine Ruhe.
»Weißt du«, sagt er mit überraschend bitterer Stimme, »wenn man
dort
gewesen ist … dann ist das alles unerträglich … Der Insel würde es besser gehen, wenn es hier gar keine Menschen gäbe …«
»Und wer würde uns dann unser Hotel heizen?«, wollte ich die Sache mit einem Scherz abtun.
»Nein, du verstehst nicht:
gar keine
.«
Ich habe alles verstanden, Petja, ja doch. Mir ist der Gedanke vertraut, ich habe ihn hundertmal gedacht. Und denkt man ihn zu Ende, bin ich mir nicht sicher, ob es der Erde insgesamt ohne Menschen schlechter ginge. Aber ich bin mir eben nicht sicher. Denn damit, dass auf einem der Planeten des Sonnensystems ein aufrecht gehender Zweibeiner erschienen ist, der sich stolz den Gattungsnamen »Homo sapiens« zugelegt hat, mag ja ein göttliches Werk von kosmischem Maßstab verbunden sein. Der Mensch mag sich ja einfach als unglücklicher Schöpfungsversuch erwiesen haben – hast du daran nicht gedacht? Vielleicht hat der Herr den Lehm nicht lang genug geknetet, ehe er ihn zusammenbuk? Aber vor allem: Unter den eindeutig misslungenen Kreaturen gab es eine Menge mächtiger und bedrohlicher Geschöpfe, die nur deshalb nicht wie der Mensch Anspruch darauf erhoben, die ganze Welt zu beherrschen, weil ihr Hirn nicht ausreichte, um bis zu diesem Unsinn vorzustoßen. Sie wurden alle gänzlich vernichtet von ihrem Schöpfer, da sie der Natur einen zu hohen Preis abforderten. Den größten freilich verlangt der Mensch des 20. und 21. Jahrhunderts ihr ab – weshalb seine Sache, meine ich, sehr bald geklärt sein wird: Seine Größe verstellt ihm dermaßen den Blick, dass er buchstäblich alles um sich herum sich selbst zum Opfer bringt.
Aber woher wissen, ob menschliche Macht und Launen dieses Opfer lohnen?
Was ist mehr wert: die Schönheit und Fülle der wilden Natur – oder das Öl, das aus ihr hervorgepresst wird?
Und was ist wichtiger für diese Menschen, die auf ihrer Insel driften: die einst von ihren Vorvätern erdachte Fortbewegungsformel oder die Form jenes Fortschritts, in die sie hineingezogen wurden – um nach einer Generation, nach nur dreißig Jahren, in einer tödlichen Falle zu hocken?
Vor vierhundert Jahren, als Engländer und Holländer die Durchfahrt nach China suchten, wäre Kolgujew beinah in die Geschichte hineingeraten – aber etwas verhinderte dies, und so blieb die Insel in den Seehandbüchern eine Marginalie als gefährlicher, ganz von Untiefen umgebener Ort.
Nur einmal – während des Zweiten Weltkriegs – fiel die Insel mit dem Chronotop der Weltgeschichte ineins: Damals versammelten sich unter Deckung einer Haubitzenbatterie 152 mm in der Bugrino vorgelagerten Bucht sechzig Schiffe, um dort auf das Geleit zu warten, das sie über den Nördlichen Seeweg eskortieren sollte.
Wie
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