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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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alle militärischen Vorhaben entpuppte sich dieser Nördliche Seeweg als eine selbst in unserem Jahrhundert zu kostspielige Angelegenheit. Im Grunde versorgte er sich selbst und seine Stützpunkte: die jenseits des Polarkreises gebauten Häfen und Siedlungen. In diese pumpte unser Staat dermaßen viel Geld, dass das Land zu einem bestimmten Zeitpunkt einfach glauben musste, es brauche diese absurde, von gigantischen Atomeisbrechern gezogene und freigehaltene Fahrrinne – es musste daran glauben, um nicht von Zweifeln befallen zu werden und den Verstand zu verlieren.
    Da der Krieg ausblieb, verlor Bugrino seine Notwendigkeit, und die Insel blieb in den Seehandbüchern weiterhin eine Marginalie. In den 1960er Jahren aber fiel, möglicherweise dank Ada Rybatschuks Buch, auch für Kolgujew etwas ab. Ich habe zufällig erfahren, dass 1969, als unser Land sich auf den hundertsten Geburtstag Lenins vorbereitete, Kolgujew in ein ganz besonderes Koordinatensystem eingetragen wurde. Die Insel lag auf dem »Lenin-Meridian« – sprich: demselben Längengrad wie Uljanowsk, wo Lenin bekanntlich unter dem Namen, den nun das frühere Simbirsk trägt, zur Welt kam. Im Verzeichnis der Städte und Dörfer, die sich auf dieser gedachten Achse wiederfanden, lag neben dem Dorf Bugrino auch die Stadt Baku. Und für die Journalisten jener Zeit war dieses so merkwürdige Nebeneinander Rechtfertigung genug für eine epische und optimistische Erzählung vom Auf blühen unseres ganzen riesigen Landes. Ein Korrespondent wurde nach Kolgujew entsandt, und er schrieb in eben jener Zeitschrift mit dem klingenden Namen »Flämmchen« –
Ogonjok
–, für die auch ich gearbeitet habe, einen Artikel über die Insel. Und alles darin ist warm und wahrhaftig erzählt. Dass nämlich auf der kleinen, nördlich des Polarkreises gelegenen Insel das heimelige Neudorf Bugrino errichtet wurde, in dem es alles für die Bequemlichkeit der Menschen gab: Schule und medizinisches Versorgungszentrum, Kindergarten und Bäckerei, eine Pelztierfarm und eine Pelznäherei. Und dass auf der Insel fleißige, Rentiere züchtende Sowchosniki und junge enthusiastische Wissenschaftler leben …
    In diesem Artikel steckte nicht mehr Verlogenheit als in allem, was damals in unserem Land geschah: Das Land lebte; und auch Kolgujew erlebte eine Zeit der Blüte. In jenen Jahren wurde sogar ein Perspektivplan zur Entwicklung der Siedlung aufgestellt, worin Bugrino als ein von einem Architekten akkurat und gedankenlos auf ein Stück Zeichenpapier hingeworfenes regelrechtes Städtchen erscheint. Aber jenes Quäntchen spezifischer Unwahrhaftigkeit, das im Verschweigen der Frage: »Mit welchem Geld?« besteht, sollte sich später als fatal, als katastrophal zerstörerisch erweisen. Die Inselbewohner gewöhnten sich daran, dass alles irgendwoher kam: Technik, Heizmaterial, Lebensmittel. Die Pelztierfarm wurde bald geschlossen: man wollte sich mit ihr nicht abmühen; aus dem gleichen Grund wurden auch die Kühe abgeschafft; das Nähen wertvoller Kleidungsstücke aus Robbenfell kam nicht in Gang, ebenso wenig die Herstellung von Medikamenten aus Bastgeweih, von Wildleder aus Renhäuten und Delikatesskonserven aus Renzunge. Die Leute wollten zu Hause sitzen und fernsehen. Aber da brach der Staat, der mit Lenins Namen verbunden war, zusammen.
    Und alles brach zusammen.
    Nichts ist befremdlicher, als die Einheimischen durch Bugrino schleichen zu sehen. Sie gehen in die Poliklinik, weil sie nichts zu tun haben. Zwei-, dreimal am Tag gehen sie ins Geschäft. Sie raufen sich und zeigen sich wechselseitig an, weil es keine Arbeit gibt und sie nichts zu tun haben. Aber warum zum Teufel reparieren sie nicht wenigstens das Holzpflaster, über das sie täglich laufen, immer mit dem Risiko, sich ein Bein zu brechen? Vor zwei Jahren habe ich das Pflaster vor dem Hotel repariert – seither hat es niemand mehr angerührt.
    Ich will darüber nicht länger nachdenken.
    Ich versuche, nicht nachzudenken.
    Das ist keine Überheblichkeit, wir sind es nur müde. Müde,
gemeinsam
mit allen die Gräuel der Verwüstung zu erleiden. Denn mit letzter Kraft tun wir so, als ob alles, was um uns herum geschieht, uns nichts angeht und nicht beschädigt. Aber es beschädigt eben doch. Ich bin verwundet und ausgeblutet, ich will, dass meine Geliebte meinen Leib badet und ihre Worte meine Seele heilen. Ich will zumindest von hier fort. Und überhaupt muss man an verdammten Orten wie diesem sich mit höchster Vorsicht

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