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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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und Tod – das war richtig getroffen. Der kindliche Wunsch nach Lebensfülle und die Unmöglichkeit, sie zu erreichen … Der Tod. Früher verstand ich nicht, warum in den russischen Volksmärchen der tote Held zunächst mit Wasser aus einem stehenden, dann aus einem lebendigen Gewässer übergossen wird. Manchmal muss man sterben, »sich selbst sterben«, um wieder aufzuleben. Ich ging durch einen symbolischen Tod: unternahm neue literarische Versuche, die ich unter fremden Namen veröffentlichte, denn das »Ich«, für das mein eigener Name stand, wollte sich absolut nicht von einigen verinnerlichten Schreibgewohnheiten trennen und ebenso wenig von seiner Gier nach Anerkenung sowie einigen düsteren Erinnerungen. Im Übrigen musste ich, um wieder »aufzuleben«, meinen ganzen Lebens- und Denkstil ändern, den Stil meiner Weltwahrnehmung, meiner Sinngebungen, von allem. Und solange ich mich nicht ganz gehäutet hatte, konnte ich einfach nicht normal weiterleben. Denn wovor wir auch davonlaufen, letzten Endes fliehen wir immer vor unserer eigenen Nichtigkeit: unserer geistigen Ausgebranntheit, dieser Krankheit, für die das 20. Jahrhundert unendlich viele Zeugnisse geliefert hat und die für viele übel ausging. Doch vielleicht kann, wer flieht, etwas gewinnen, das ihn bereichert?
    Inzwischen ist so viel Zeit vergangen, dass viele meiner früheren Empfindungen und ebenso meiner Handlungen mir lächerlich vorkommen; es ging mir ernstlich dreckig, doch, aber von außen betrachtet hat es bestimmt höchst komisch ausgesehen: Wovor flieht dieser Mensch, wonach fragt er, mit wem streitet er, wem antwortet er, warum straft und quält er seine Protagonisten, weshalb sucht er mal Vergessen, mal ein Zeichen von oben? In einem kleinen Prosatext ging ich so weit, meine Persönlichkeit im wortwörtlichen Sinne aufzuspalten: Ein Protagonist verkörperte »mich«, mein vernünftiges Ich, der andere war Künstler, furchtlos bis zur Unvernunft und überschritt auf der Suche nach seiner Individualität zuletzt die Grenzen der Kunst, um vom Leben verschluckt zu werden, womöglich mit fatalem Ausgang für ihn …
    Als er begreift, dass meine Ermahnungen, er solle sich keinem Risiko aussetzen und wie alle sein, nichts anderes als die Ansichten eines Spießers sind, verlässt er mich. Das letzte, was ich von ihm noch abfangen kann, ist ein Telegramm, das er seiner Geliebten schickt – der Frau, die zu lieben auch ich insgeheim bereit bin.
    Zu lieben bereit! Als ich nach anderthalb Jahren des Alleinseins mich wieder verliebte, da freute ich mich beschämenderweise anfangs nicht, sondern bekam es mit der Angst zu tun: Was sollte ich mit der Geliebten teilen – außer meinen Misserfolgen und Zweifeln? Erst auf der Insel erfuhr ich die Antwort. Die Insel war die Antwort. Der Schriftstellerwahn, die Ruhmsucht, all das fiel auf einen Schlag in dem Moment von mir ab, als ich die Insel annahm, als Gabe, als Geheimnis. An die Liebe, die zwei Menschen allein durch das Band der körperlichen Anziehung oder gar der »Pflicht« bindet, glaube ich nicht. Ich glaube an die Liebe, die wächst wie ein Baum, die zweien hilft, sich zu entdecken, und von ihnen gespeist werden will, unermüdlich, um wachsen zu können, die neue Sinngebungen, neue, immer komplexere Rollen, immer transparentere, stärker geläuterte Gefühlsnuancen verlangt. Und wenn es mein Herz danach verlangte hinauszuziehen, so fiel es der Liebsten zu, daran zu glauben, dass die Reise gelingen und ich das Unmögliche vollbringen würde. Und mich, solange ich es noch nicht vollbracht hatte, von ihrem ersehnten Lager fortzuschicken mit jenem Wort aus dem klugen Märchen: »Geh hin – weiß nicht wohin, bringe das – weiß nicht was …«
    Wenn meine Reise gelingt, Liebste, bringe ich es dir als Gabe mit. Ich weiß noch nicht, was es sein wird. Vielleicht ein Foto. Oder eine Pflanze, einen Stein … Etwas, das Gewicht hat, gültiges Wort ist.
Das
ist wohl der eigentliche Schatz, den ich zu erringen begehrte. Das ist der Schlüssel für diese ganze Geschichte …
    Natürlich birgt das Leben als solches für den Schriftsteller immer eine gefährliche Verlockung: sich in dieses Leben zu stürzen, die eigenen Konstruktionen einzureißen und ins köstliche unmittelbare Erleben einzutauchen, etwa in die kalte klare Rage des kämpfenden Soldaten oder in den feurigen Wirbel des verliebten, sich in den Tanz werfenden Tänzers. Vergleichbares muss Rimbaud widerfahren sein, dem die Reise nach

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