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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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drängenderen, fast zudringlichen Thema. Als ob ich für mich diese Möglichkeit anprobieren wollte, indem ich das Thema einmal so, dann wieder so durchspielte, und wenn ich mich nicht getraute, dem Beispiel meiner Protagonisten zu folgen, so nur deshalb, weil am Ende dieser Variationen nie etwas Hoffnung Gebendes aufschien. Im besten Fall endete es mit dem Verschwinden, dem Sichauflösen meines Protagonisten im molekularen Brodeln der Welt, was zweifellos nur ein Euphemismus für den Tod war, der mich in diesen Jahren fest im Blick hatte, der in mir das angeschossene Tier, das mögliche Opfer spürte.
    Ich entwarf einen psychotherapeutischen Arzt, arriviert, aber von Arbeit und Erfolg ausgehöhlt und von den Patienten ausgelaugt, der in die Kindheit zurückzufliehen versucht. Eines Tages wird dieses Gefühl in ihm übermächtig, und es geht etwas Ungutes mit ihm vor. Die üblichen Mechanismen der Selbstkontrolle versagen, eine Sonnenexplosion in seinem Kopf … A Momentary Lapse of Reason … Er setzt sich ins Auto, braust los, rast durch die Gegend, ein dunstiges Grün im April; der Kassettenrekorder sorgt für den Adrenalinstoß, pumpt mit »Learning to fly« den passenden Beat in die Adern … Irgendwie findet er sich an der Grenze seiner Kinderwelt wieder, an dem alten Waldsaum, der unverändert ist, wo unverändert die alte Kiefer mit der vertrockneten Spitze den Zugang zu den grünen Gemächern bewacht …
    Natürlich weiß er, wie naiv dieser Versuch zurückzufliehen ist, aber er ist ja ein vernünftig denkender Mensch und macht sich klar, dass das letzten Endes auch eine Art Therapie ist, dass, wenn er hierher gefahren ist, es so sein musste: dass er irgendein Erlebnis
integrieren
muss, etwas erinnern oder finden muss, und sein
Unterbewusstes
ihm sagen wird, was. Anscheinend geht es um das alte, tief im Waldesinnern verborgene Moor, das einst all seine kindlichen Vorstellungen vom Geheimnis verkörperte, des echten Geheimnisses, geschürzt aus Faszination und Angst angesichts dieses Ortes, der sich in der Zeit endlos erstreckte, der seine wunderlichen Gewächse hervortrieb, gluckernde Laute ausstieß und aus den Tiefen schwarzer, bodenloser Kolke Gas in quecksilbernen Klumpen aufsteigen und verperlen ließ, und der gewiss von Geistern und Geistern gleichenden Eulen bevölkert war … Und so geht er, der alles begreifende Erwachsene, durch den leeren lichten Wald zu diesem geheimnisvollen Gefäß seiner Kindheit, jenem tief verborgenen Moorauge, und mit Erstaunen spürt er, dass der Wald den trockenen Sorgen- und Alltagslehm wie ein Aquarell sanft, beinah unmerklich verwäscht, die verkrustete Bitterkeit einer erkalteten Liebe, die schwarzen Töne fremder Bekenntnisse, all das, was das Leben unerträglich machte, und plötzlich erinnert er sich wieder an die unendlich vielen dem Gedächtnis aus der Kinderzeit eingeschriebenen Bilder, an den alten Geruch der Welt, die alte Farbe … Er betritt, beinah glücklich, das Moor und hat vergessen, dass der Bruch im Frühjahr mit Schmelzwasser vollgesogen ist und es zwischen den Sumpflöchern noch keinen Pfad gibt: der ist zwar nicht verschwunden, aber noch nicht wieder getrampelt … Er gerät in einen Raum, wo unter den Füßen der Boden schwankt, sieht das schwarze Moorauge, weicht vor Schreck einen Schritt zur Seite und sinkt ein …
    Er hat nicht gedacht, dass so etwas passieren kann, dass es gefährlich ist.
    Eine dumme Anwandlung, eine einzige dumme Anwandlung, ein einziger Schritt zur Seite.
    Der eisige Modder um seinen Leib. Mit dem Bauch fühlt er den zementschweren, in ewiger Finsternis bleibenden Morast, der ihn erbarmungslos von allen Seiten bedrängt …
    Das gibt eine Lungenentzündung.
    Er versucht sich hochzustemmen und sackt bis zu den Schultern ein.
    Da begreift er, es geht nicht um den versauten Anzug und nicht um eine Lungenentzündung, sondern um den Tod.
    Der Morast umzwängt ihn und die Kälte ist säuisch, diese Kälte, die ihm die Kehle bald abschnüren wird, die durch den Hals in den Kopf kriecht und irre macht …
    Er bäumt sich noch einmal hoch – jetzt überragt nur noch das Gesicht den Moorgrund. Kein Mensch, um Hilfe herbeizurufen, aber er konnte auch schon nicht mehr rufen, er sah nur noch den Himmel – das riesige blaue, den Bruch überwölbende Firmament, wo unerhört schöne weiße Wölkchen, von der Frühlingserde aufgestiegener Dunst, in vollkommener Gleichgültigkeit gegenüber seinem Untergang vorüberglitten …
    Kindheit

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