Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
dem auch eine gute lappländische Zauberin vorkommt … Ebendort stehen bis heute Siejdde – auf drei kleinen, gerade einmal faustgroßen Steinen ruhende riesige Monolithe (früher deutete man sie absurderweise aus naturwissenschaftlicher Perspektive: als Verwitterungsgestein). Ich habe Siejdde auf der Halbinsel Kola gesehen, auf dem Tschuna-Tundra, und ihr Anblick hat in mir eine seltsame Mischung aus Begeisterung und Grauen ausgelöst. Wäre ich damals zu feinerer Empfindung fähig gewesen, ich hätte gewiss gesagt, auf dem kahlen Hang des hoch die Umgebung überragenden Bergs überkam mich zwischen diesen uralten Steinen unerklärlich »Furcht und Zittern«.
Hier stehen wir an der Schwelle, jenseits derer der Leser alle nachfolgenden Überlegungen als groben Mystifaxfirlefanz abtun kann. Er sollte es sich überlegen. Und sei es nur, weil wir dem Rätsel ja offenbar schon sehr nahe sind, es aber weiterhin mit den
Ausgangsdaten
nicht zu begreifen vermögen. Anders gesagt, wir nehmen weder die Informationen wahr, die zu seiner Lösung bereitliegen (da sie sich uns in einer für uns vielfach äußerst ungewöhnlichen Form präsentieren), noch auch das, was wir doch enträtseln sollen – denn dieses Geheimnis enthüllt sich nicht durch Papier oder Wort, sondern nur durch persönliche Berührung mit ihm. Es verlangt Teilhabe. Und ist nicht ungefährlich.
Es ist wohl an der Zeit, Alexander Wassiljewitsch Bartschenko zu erwähnen. Seine frühen Arbeiten stehen in allen Bibliotheken, und wem deren Lektüre nicht zu mühsam ist, der kann sich davon überzeugen, dass er ein nüchterner Geist war und ein ausgezeichneter Kenner des Hohen Nordens. Er leitete den Wissenschaftsrat der Murmansker Abteilung des Volkskommissariats für Bildungswesen, als er 1921 eine Expedition in samisches Siedlungsgebiet auf der Kolahalbinsel organisierte. Dort gab es eine eigenartige Krankheit, die bei den Russen »Merjatschenje« heißt, allgemeiner aber für den ganzen Nordpolarkreis unter dem Namen »arktische Hysterie« bekannt ist. Ihre Symptome bestehen in einer wachsenden Indifferenz der Umgebung gegenüber, bei gleichzeitig einsetzender Fähigkeit zu weissagen, in fremden Sprachen zu reden und jeden beliebigen Auftrag auszuführen; überdies fügen Messerstiche dem so »Erkrankten« keine Verletzungen zu. Vor der Revolution hatte Bartschenko mit Telepathie und Hypnose experimentiert, was ihn wohl diese Gegend für seine eigenwilligen Forschungsziele wählen ließ. Aus Lappland zurück, hielt er vor dem Leningrader Hirnforschungsinstitut einen umfangreichen Vortrag, der Wladimir Bechterews Aufmerksamkeit fand. Bartschenko äußerte darin die Annahme, die samischen Schamanen – die Noaidi – seien die letzten lebenden Bewahrer des Wissens einer sehr alten Kultur, die einst über das gesamte europäische Polargebiet verbreitet gewesen sei und auf die auch die Steinbauten zurückgingen, deren Erklärung uns so schwerfällt. Seiner Ansicht nach könnten sie dazu gedient haben, Personen in rituelle Trance zu versetzen, in jenen von Uneingeweihten als Krankheit diagnostizierten Zustand, in dem sich das Bewusstsein radikal verändert und der Betreffende in eine andere Raumzeitsprache versetzt wird …
Bartschenko wurde Mitarbeiter des Hirnforschungsinstituts, Ende der 1920er Jahre stufte der damalige Staatssicherheitsdienst OGPU seine Experimente als geheim ein, 1937 wurde er verhaftet, 1938 erschossen. Das Material zu seinem Buch
Dunkhor
, in dem er von seinen Entdeckungen berichten wollte, verschwand nach seiner Verhaftung spurlos …
Was sollte ich mit all dem anfangen? Ich besaß wohl reichhaltige
Informationen
über die Siirten – hatten sie mich aber der Entschleierung ihres Geheimnisses nähergebracht? Und worin bestünde die Enträtselung? Allmählich begann mir zu dämmern, dass ich an höchst interessanten Plätzen gewesen war: ich hatte den Siirtja-Sede gesehen und auch den Bolschoje Serdze; aber bis zu letzterem waren Petka und ich auf unserer Wanderung nicht vorgedrungen, wir hatten seinen Schwingungen nicht gelauscht, hatten die Umgebung nicht befragt, hatten keine Antwort erhalten. Denn die Berührung mit dem Geheimnis, sie wäre die Antwort, die ich dieser Geschichte würde hinzufügen können. Aber dafür musste ich erneut auf die Insel fahren. Und die Berührung suchen …
Wie, konnte ich mir nur schlecht vorstellen, ich fragte mich, was ich dafür tun musste. Nichts, stellte sich heraus. Es bedurfte keiner speziellen
Weitere Kostenlose Bücher