Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
es auch andere Auffassungen, etwa die von Tschernezow, dessen Arbeiten die »archäologische« Phase der Siirten-Forschung einleiten. Die deutliche Ähnlichkeit archäologischer Fundstücke
von Karelien bis an die Lena
aus dem 3. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung bringt ihn zu der Vermutung, dass in dieser Epoche »in dem Raum zwischen Ural und Jenissej durch den Kontakt zwischen Teilen der uralischen (genauer: protougrischen) Bevölkerung, den Urjukagiren, und möglicherweise Teilen einer protosamojedischen Population die Urahnen der Lappen ans Licht traten, die allmählich westwärts wanderten …« »Die von einer Reihe von Wissenschaftlern herausgearbeitete Verwandtschaft der samischen, samojedischen 54 und jukagirischen Sprachen können diese Vermutung erhärten …« »Eine Reihe von Daten erlaubt, die Sihirten mit einem Teil der Protolappen (Samen) zu identifizieren, der im Petschora-Gebiet verblieb, während der größere Teil von ihnen nach Westen weiterwanderte und Karelien, die Kolahalbinsel sowie Nordskandinavien bevölkerte …«
Was folgt nun daraus?
Die meisten Wissenschaftler neigen heute zu der Annahme, dass die alte Bezeichnung der Nenzen als Samojeden wahrscheinlich auf das Doppelwort »Saame-Jedna« (»Samen-Land«) zurückgeht. Die Nähe zwischen dem Nenzischen und dem Siirtischen wird damit erklärt, dass die siirtischen Samen ursprünglich eine samojedische Varietät sprachen. Wodurch auch begreif bar wird, warum Nenzen und Siirten einander verstehen konnten.
Auch die geringe Größe der Siirten kann als Beleg für ihre Verwandtschaft mit den Samen, dieser kleinwüchsigsten borealen Ethnie, dienen. Das von Tschernezow vermessene männliche Skelett wies eine Körpergröße von 159 Zentimetern auf, der Kopfumfang betrug 82 Zentimeter – exakt die durchschnittlichen Maße bei den Samen.
Ebenso verleiten einige von den Seefahrern aufgezeichnete Beobachtungen zu Schlussfolgerungen in derselben Richtung, so van Linschootens Bemerkung, er habe im Gebiet der Jugorstraße einen alten »Samojeden« mit einem fünfzackigen Stern aus Wollstoff auf dem Kopf gesehen – eine solche Kopf bedeckung gibt es nur bei den Samen, sonst bei keiner anderen zirkumpolaren Ethnie. Die Siirten waren folglich zweifellos mit den Samen verwandt.
Die Wanderung der siirtischen Samen über das Weiße Meer oder um es herum bis zur Kolahalbinsel und nach Lappland eröffnet uns einen weiteren Horizont. Durch ihre
Kekuren
(Steinhaufen, zu rituellen Zwecken entlang der Küste aufgerichtet) sind die Siirten Teil einer rätselhaften Kultur, vom Alter her der ägyptischen vergleichbar, allerdings für uns noch schwieriger zu erschließen. Sie hat im gesamten europäischen Norden, von Lappland bis zur Normandie, rätselhafte Megalithbauten errichtet: Menhire, Dolmen, Galeriegräber, Labyrinthe, Siejdde und schließlich komplexe Bauwerke aus riesigen Monolithen, die Steinkreise, deren berühmteste die Anlagen von Stonehenge und Avebury sind. Megalithbauwerke existieren überall auf der Welt außer in Australien, da sie aber in der Regel an küstennahen Plätzen zu finden sind, unterteilt die Forschung sie in bestimmte Zonen. Den östlichsten Rand der europäischen Megalithkultur bilden die Solowezki-Inseln (wo es bis heute herrliche »Labyrinthe« und über den Strand verteilte rätselhafte Steinhaufen gibt); von hier aus erstrecken sich die »großen Steine« über die Kolahalbinsel und Skandinavien, allmählich südwärts wandernd, bis nach Dänemark, England und Frankreich, ja bis hinunter nach Spanien.
Nun gibt es ja auf der zum Solowezki-Archipel gehörenden Insel Anser jenen erstaunlichen Ortsnamen – Kap Kolgujew –, durch den die Insel Kolgujew mit dem Weißen Meer verbunden ist: verbunden durch diesen wirklich seltsamen, nirgendwo sonst mehr anzutreffenden und aus keiner anderen Sprache sinnvoll ableitbaren Namen, dessen Schlüssel offenbar allein im Samischen (mithin auch Siirtischen) zu suchen ist. Das Kap Kolgujew auf Anser ist demnach eine kleine toponymische Restspur jener »Brücke«, über welche die siirtischen Samen einst westwärts wanderten. Das erklärt auch die Zauberkünste, auf die sich, den nenzischen Überlieferungen zufolge, dieses Volk verstand: Lappland galt ja von alters her als Zauberland. Aus Lappland holte Iwan der Schreckliche sich Zauberer und Schamanen; mit Lappland ist die Vorstellung der Eisjungfrau verbunden, die sich später zur Gestalt der Schneekönigin wandelt in jenem Märchen, in
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