Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Nomadenzeiten lebte hier im Sand ein Wolfspaar – und auch jetzt verlässt einen zwischen den Dünen, Sandtrichtern und -kratern nicht das Gefühl, allein auf der Erde zu sein. Der Bolschoje Serdze, »Großes Herz«, ist zu sehen. Gestern war ich dort, ließ auf dem Gipfel eine Münze zurück, wie es sich dem Brauch nach gehört. Silber befestigt die Liebe und verheißt Reichtum. Der Brauch muss fortbestehen. Und auf den Gipfeln der Berge müssen heilige Handlungen vollzogen werden – wozu gäbe es sonst Berggipfel?
Eben ist der Schatten einer Wolke auf den Bolschoje Serdze gekrochen. Finsteres Herz … Schwarzes Herz …
Wie schade, dass es unmöglich ist, diesen weite-, sonne- und größeerfüllten Horizont mitzunehmen und dich, Liebste, und euch, meine Freunde, ihn für einen Augenblick, wenigstens einen kurzen Moment mit meinen Augen betrachten zu lassen! Aber ausgeschlossen! Um herzugelangen habe ich selber fünf Jahre gebraucht und bin nicht hundert oder zweihundert, sondern weiß Gott wie viele Kilometer über Bülten gestapft, ehe ich bei diesen herrlichen Gipfeln ankam. Vögel, Hummeln … Fein gezeichnete Sandwellen, vollkommen unberührt, geschaffen von Wind und Sonne … Jean-Henri Fabre, Frankreich, die Provence, Welt der Dünen, herrlich wie Träume von der Liebe …
Auf dem Rückweg geriet ich ans Ende meiner Kräfte. Immerhin sind es hin und zurück neun Stunden. Dazu die Hitze. Ich hatte derartiges Ohrensausen, dass ich glaubte, überall sängen Grashüpfer … Aber wer sagt, dass Rückwege leicht sind? Zurückzukehren ist schwieriger als den ersten Fuß hinaus zu setzen. Hinaus ziehen wir unbekümmert, natürlich ohne jede Ahnung, welche Prüfungen uns erwarten; hinaus ziehen wir unbeschwert, ohne Vorstellung davon, wie lang die Suche nach dem Schatz sich hinschleppen und wie kräfteübersteigend schwer der zuletzt gewonnene Reichtum sein wird, ohne den heimzukehren so sinnlos wie unmöglich ist …
Aber bislang bin ich ruhig: Ich stehe unter dem sicheren Schutz meiner Insel.
Hundertwasser
. Sammelte man alle auf der Insel mit dem Wasser zusammenhängenden Geräusche, so ergäbe dies ein phantastisches musikalisches Gewebe. Das Tröpfeln der Schneeplatten, das Plätschern der Flüsse (bei jedem und bei jeder Biegung ein anderes), das Anbranden der Wellen, das Schwappen der Binnenseen, das Flügel- und Pfotengepatsche der Gänse auf dem Wasser, das Ausgleiten der niedergehenden Enten, das Gluckern und Schmatzen der Moore, das Schweigen und dann wieder feine Pfeifen des Nebels, das Knistern des tauenden Schnees …
Ich habe gelesen, im alten Indien versammelten sich die Menschen bei einem Wasserfall, um dem Wasser seine Töne abzulauschen. Hier auf Kolgujew könnte man ein absolut phantastisches, in allen Nuancen einer strömenden Melodik schillerndes Werk schaffen.
An einer tiefen Stelle eines Baches nehme ich im eisig-klaren Wasser ein Bad. Einige Ausrufungszeichen – und das Herz bekommt im Nu Luft, die Last der Kilometer und des klebrigen Schweißes sind sofort heruntergewaschen, und wie eine Figur von Rockwell Kent springe ich nackt auf dem grünen Ufer umher und fühle mich als ein wilder Sohn der Natur.
Heute!
Es war alles vorausbedacht, wahrscheinlich zu gut, weshalb mein Plan auch auf den Kopf gestellt wurde. Genauer, ein objektiver Umstand legte sich ihm in den Weg: kompakter, kalter Nebel, ein von Südosten her aufziehender, niedriger, immer eisiger werdender, zum Schneiden dichter Nebel. Aber ich war wohl auch selber schuld, hielt ich doch mein Vorhaben – nämlich die Hügel auf der anderen Seite des Sees zu erreichen und zu nächtlicher Stunde die Siirten herbeizuläuten –, alles in allem für einfach. Ich hatte die Gegend am Vortag in Augenschein genommen und mir alles eingeprägt: Ich musste auf den Kamm »unseres« – des unserem Balok zunächst liegenden – Hügels klettern und über diesen Kamm geradenwegs bis zu den Kuppen laufen, die ich mir für meine Zeremonie ausgeguckt hatte; unterwegs gab es nur ein Hindernis, einen Terraineinschnitt mit zwei durch einen Damm getrennte Seen, danach wäre der »Rücken«, der mir schnurgerade wie ein Weg erschien, wieder ebenmäßig. Ich verließ den Balok gegen elf und stieg zum Hügelkamm hinauf; die noch scheinende Sonne warf meinen Schatten unwirklich lang auf den Abhang. Aber da entdeckte ich die taubengraue Nebelwand, die rasch heranzog und die ganze Erde in Dunkel tauchte … Wieviel Minuten blieben mir noch? Fünfzehn,
Weitere Kostenlose Bücher