Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
heftiger weht er. Wie es heftiger nicht geht. Aber doch. Treibt einem Tränen aus den Augen, Speichel aus dem Mund. Wir laufen in einer braunen Schale des Stillschweigens, einem Flusstal, gegen ihn an. Grauzottelig fließt das Gras in der Strömung des Windes nach Süden; von den Sandbänken fegen die Körner in dünnen Rinnsalen übers eisig-graue Wasser dem Ufer zu. Blau aufgekeimtes Leben: Vergissmeinnicht, Glockenblumen, Enzian. Ein nie dagewesener Rausch, sich in diesem Vorfrühjahrswind weiter und weiter zu schleppen. Nach dem erhitzten Asphalt von Moskau, den Menschenmengen und der
Eisbär
-Stripteasebar sehe ich hier im Tal der Stille einen weißen Schwan, der, ergriffen von den Schwingen des Windes, schneeum-klöppelt aus dem finsteren Schlund eines Sees aufsteigt …
Weiter, weiter – über Weidenästchen, braunen Torf, wie über einen Faschinenweg. Zehntausend Jahre, die seit der letzten Eiszeit vergangen sind, zehntausend Jahre Weiden, Moltebeeren und Moos in den Ablagerungen, im schwarzen Ferment der Moore. Wieder hat sich der Wind in uns verbissen, auf einem Hügelkamm, über Schneefeldern dampft Nebel. Die Erschöpfung meldet sich mit altbekannten Gedanken: »Genug!« Genug mit den Baloks, den Pritschen, der Kälte, der Erde nach der großen Vereisung, der Ornithologie, der Geologie … Das Lied ist so altbekannt, dass es die Beachtung nicht lohnt. Die Insel weiß schlicht und einfach, dass ich dieses Mal wirklich die Berührung mit dem Geheimnis suche. Und sie will, dass ich für diese Berührung den vollen Preis zahle …
Nach zwei Tagen langten wir beim Kriwoje Osero tief im Inselinnern an. Wir richteten uns in dem windschiefen Balok ein, fingen uns Fisch … Auf der anderen Seite des Sees guckte ich mir zwei malerische Hügel aus, in vielleicht fünf Kilometern Entfernung von unserer Hütte, die müssten geeignet sein, um es zu versuchen … Aber ich bin noch nicht so weit, ich warte lieber noch.
Halb auf eine Wandlung in mir, halb auf ein Zeichen.
Nachts sah ich über dem See ein erstaunliches Bild: Der Nebel, der nach Mitternacht die Sonne und das gegenüberliegende Ufer geschluckt hatte, wurde so dicht, dass schließlich nur noch unser Ufer zu sehen war und der blanke Plan des Wassers, der sich in den Nebel hinein auflöste und mit ihm verschmolz.
Über
dem Nebel aber stand, sich hellkalt im Wasser spiegelnd, der blaue Himmel. Als gestaltlose Mitte des Ganzen entband die Nebelmasse den Übergang von Wasser zu Himmel von allen Grenzen, Horizonten und Linien. Es gab einen Moment, da war es, als stürze der Himmel durch die Nebelleere auf mich hernieder.
Eine Gans flog, matt reflektiert vom feucht beschlagenen Spiegel des Sees, vorüber. Zu hören waren in dieser Welt aus Wasser und Himmel nur die ineins verschmolzenen nächtlichen Stimmen der Vögel. Sonst nichts. Wasser, Leere, der Widerschein zweier gelblicher Wölkchen im Blau des Sees. Außer uns kein einziger Mensch im Umkreis vieler Kilometer. Eine phantastische Stille. Ich überlegte, ob es nicht an der Zeit sei, das Glöckchen zur Hilfe zu nehmen, entschied aber, dass es zu früh sei: Ich hatte meinen inneren Lärm noch nicht herausgelaufen, hatte noch nicht diesen herrlichen, reinigenden Raum durch mich hindurchströmen lassen.
Jeden Tag, den ich weiter fortgehe, nähere ich mich dir, Liebste. Einmal dachte ich, ich würde nie ankommen. Denn je weiter ich lief, desto mehr lag vor mir, desto unerbittlicher wurden die Forderungen, die keiner aufgestellt, keiner ausgesprochen hatte, die mich zwangen, noch weiter zu gehen; desto unermesslicher wurde rundherum der grenzenlose Raum. Aber dann erreichte ich sie doch, weißt du, die
Blauen Berge
von Kolgujew, und sah meine Insel aus der Vogelperspektive. Und sollte es mir beschieden sein, eines Tages noch einmal nach Bugrino zu geraten und von weitem die fernen, lockenden Hügel über der ebenen Tundrafläche zu sehen, so kann ich mit vollem Recht sagen: »Ich war dort.« Denn das war ich.
Heute, an diesem 18. Juli, ist es wohl soweit …
Den dritten Tag schon herrscht echter heißer Sommer. Ich liege am Boden, auf dem Gipfel der »Sandkuppen«, der Jarej-Seda. Die Luft vibriert über der Tundra, der Wind trägt winzige Wölkchen heran, die Glockenblumen und honigduftenden Silberwurzen ringsumher zittern, und die Hügel … Wie herrlich diese Hügel sind! Sand, aufgeheizte Steine, Grün. Im Schatten Schnee. In der Sonne Schmetterlinge. Unablässiges Gesumm von wespenartigen Fliegen. Zu
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