Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Zurüstungen. Auch keines Kassettenrekorders oder Fotoapparats. Am ehesten musste ich etwas
mit mir selber
tun, aber was – das wusste ich nicht. Zweifellos ging es um die Eigenschaften der Raumzeit, um Raum und Zeit der Überlieferung, in die hinein ich für eine Begegnung mit den Siirten gelangen musste. Denn in der Überlieferung vergeht die Vergangenheit gewissermaßen nicht ganz, sondern strömt gleichsam hinüber in eine andere Dimension, in eine parallele Welt, unter die Erde, wohin man jedoch auch von hier – unserer Welt – aus den Zugang finden kann. Dieser tut sich nicht jedem auf und nicht jederzeit, doch prinzipiell ist es möglich, dass beide Welten in Fühlung kommen. Es gibt bestimmte Orte, an denen sich ein Durchschlupf auftut; auch gibt es einen bevorzugten Zeitpunkt – einen bestimmten Tag, ein bestimmtes Jahr –, der für einen Kontakt besonders günstig ist …
Die zentrale Frage war: Glaube ich an all das? Aber wie sollte ich, da doch, wie ich sah, die Nenzen selbst nur noch mit Mühe daran glaubten und nur mit knapper Not sich zurückhielten, in unserem Kielwasser ihre eigenen Legenden als »bloße Legenden« einzustufen, wohin es keinen »Zugang« gab und nicht geben kann?
Ich weiß noch, wie Alik, als wir über die Siirten sprachen, in verzweifelter Hoffnung sagte: »Vielleicht lebt ja noch irgendwo der eine oder andere …« Ja, die ganze Schwierigkeit besteht darin, daran zu
glauben
. Wer die Gesetze des Märchens ernstnimmt, der wird zu guter Letzt auf die Wirklichkeit stoßen, die uns auf die eine oder andere Weise zwingt, mit uns selber zu rechnen – hieran zweifelte ich nicht. Woran ich zweifelte, war, ob meine Kräfte dafür ausreichen würden. Aber es half alles nichts: Im Sommer 1997 brach ich zum dritten Mal nach Kolgujew auf.
Obwohl meine Dienstreise klar genug umrissen war, damit die diversen Instanzen – darunter Grenzschutzbehörde und Gebietsverwaltung – ihre Durchführung begünstigten, war der wichtigste Schatz in meinem Gepäck, der Gegenstand, ohne den ich auf der Insel nichts würde ausrichten können, ein kleines Glöckchen, das die Geliebte mir mit auf den Weg gegeben hatte. Der Leser erinnert sich vielleicht – die Siirten mochten Glöckchen sehr; wenn sie überhaupt antworten sollten, worauf, wenn nicht auf diesen Ruf?
Also wieder: der Hubschrauber, der über die Tundra dröhnt, die Sonne, die bald hier, bald da auf der See fischschuppig aufflammt, und plötzlich – klare Himmelsbläue, kontrastreiches Märzlicht im Juli, und die Insel, die mir diesmal in solch blendendem Glast vor Augen tritt …
Alles ist vertraut: der sich neigende Leuchtturm auf der Koschka, das sich an die Küste klammernde Dörfchen mit seinen drei Häuserreihen und den in alle Himmelsrichtungen von ihm fortstrebenden Traktorspuren, die Löschwasserzisterne. Die beim Hubschrauberlandeplatz zusammengedrängte kleine Menschen-gruppe. Hundert Schritt davon entfernt, gibt es keinerlei Grund mehr, die Existenz Moskaus oder irgendeiner anderen Weltstadt zu behaupten. Der uralte Torf ist von erstem Grün überzogen, die Blauen Berge mit ihrem unerklärlich lockenden Zickzack schweben unverändert über dem Horizont. Der tauende Boden ist eben erst unter der Winterdecke hervorgekommen. Mächtige Altschneefelder am Strand verleihen der Ansicht das Kolorit einer eiszeitlichen Urlandschaft. Aber in der Pfütze vor dem Hotel ist die Gelbe Sumpfdotterblume bereits erblüht. Ich bin also in den frühen April geraten – nach Moskauer Kalender.
Einige Zeit vergeht mit Besuchen bei Bekannten und Gesprächen mit Grigori Iwanowitsch, Alik und Tolik, die, ohne zu fragen, warum ich gekommen bin und wohin wir dieses Mal auf brechen, bloß ungeduldig das Zellophan von der Camel-Packung reißen und kurz Neuigkeiten austauschen, um auf der Stelle mit Vorbereitungen für den Abmarsch zu beginnen, als hätten sie immer gewusst, dass ich noch einmal herkomme, auf jeden Fall komme, obwohl ich es, ehrlich gesagt, nicht vorhatte …
Dann machen wir uns auf in die Tundra. Ich muss möglichst schnell Moskau aus mir »herauslaufen«: auf meiner Seele liegen die Bleigewichte der dortigen Sorgen. Aber sie sind im Nu heraus. Das Gehen durch die Tundra ist ein gutes Gesundungsmittel, hastloser, heilender Rhythmus. Um so mehr, als wir ohne Rucksäcke aufgebrochen sind, die wir mit einem Renschlitten vorausgeschickt haben.
Schweigen. Wind, messergleich in die Haut schneidender Wind, eisengleich polternder. Immer
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