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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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zwanzig? Ich lief auf den Sonnenuntergang zu, aber die Finsternis holte mich unerbittlich ein, die feuchte Luft bohrte sich wie ein Pfahl in meine Bronchien. Vorn über den beiden Seen quoll inmitten der Bültentundra der Nebel empor wie über einem riesigen brodelnden Kessel. Ehe mich der graue Schleier einhüllte, durch den nicht einmal mehr die Sonne zu sehen war, bemerkte ich noch eine Ente, die in den weiß über einem Moortümpel dampfenden Schwaden mit kaum hörbarem Gleiten wasserte. Zehn Minuten später hatte ich endgültig jede Vorstellung, in welche Richtung ich laufen musste, verloren. Die Sicht betrug vielleicht hundert Meter, aber die tagsüber logische Annahme, ich bräuchte mich nur – wenn nicht mit den Augen, so zumindest mit den Füßen – am höchsten Punkt des Reliefs zu orientieren, erwies sich als abwegig. In der vom Nebel geformten Halbkugel schienen alle Punkte gleich hoch, und selbst auf trockenem Grund war es unmöglich, die Richtung zu bestimmen. Auf seinem Tümpel schnatterte das hübsche Entlein. Ein See. Ein großer. Den hatte ich nie gesehen, aber … Noch ein See, kleiner, links, und eine morastige Senke. Ich hob einen Stock auf und rammte ihn auf dem nächsten Gipfel zur Orientierung in den Boden. Ich ging weiter geradeaus, entdeckte aber nirgendwo eine Erhebung. Wo war ich? Rundherum Nebeldüsternis, unbekannte Moore und Seen, beinah vollkommene Stille. Ich stieg über ein Schneefeld abwärts (wo kam es plötzlich her?), überquerte einen sehr tiefen Wasserlauf, der zwei Seen verband, und ging weiter geradeaus, aber da schimmerte plötzlich hinten das Schneefeld wieder auf – macht nichts, musste ich halt umdrehen. Ich fand meinen aufgepflanzten Stock. Einen Augenblick dachte ich, vielleicht stehe ich ja auf dem Hügel, zu dem ich wollte, aber er konnte trotz allem nicht derart flach sein. Ich lief über den »Rücken« in die, wie ich hoffte, umgekehrte Richtung und sah mit einemmal vor mir im dicken Nebel mächtige Hügelausläufer schwimmen …
    Was ich empfand, war weniger Freude als ein Gruseln. Die von mir anvisierten Hügel hatte ich gefunden, aber indem ich mich in entgegengesetzter Richtung auf sie zubewegt hatte. So etwas ist wohl auch Alice im Wunderland passiert, bloß tobte sich dort Carrolls mathematische Phantasie nach Kräften aus, aber hier, wer trieb hier seinen Schabernack mit mir? Ich stieg einen der Hänge hinauf, als ich plötzlich einen Schrei vernahm, den keiner, der ihn einmal gehört hat, falsch deutet – ein Wanderfalke! Noch ein paar Schritte und ich war oben. Mit bösem Geschrei strichen die Vögel über mich hinweg, und ich hörte das unheimliche »Klackern« der Federn, wenn der Falke seine Beute schlägt. Nein, einen Menschen konnten sie nicht angreifen, aber versteh mich trotzdem, Leser: Es war Nacht, obzwar eine weiße, ich hatte mich auf unvergleichlich absurde Weise vorwärtsbewegt und stieß nun am Ziel obendrein auf ein Hindernis – die natürliche Wut aufgeschreckter Vögel, die besagt, dass gleich hier irgendwo ihr Nest ist … Entnervt von diesem Geräusch, das etwas von einem die Luft durchschneidenden Messer hatte, stülpte ich mir die Kapuze über den Kopf und begann den Gipfel zu umrunden. Da sah ich sie: ein aus kaum beflaumten lebendigen Körperchen gewundener Kreis, zu dem sich vier weiße Nestlinge, die Flügel umeinander geschlagen, die Schnäbel nach innen gerichtet, verflochten hatten. Ich holte das Glöckchen hervor und läutete es über dem Köpfchen des größten Kükens. Der Falke antwortete hoch oben und schoss, einen Angriff vortäuschend, mit rasender Geschwindigkeit an mir vorbei. Ich machte ein paar Aufnahmen von den Nestlingen und lief dann, um sie nicht länger zu ängstigen, zum Nachbargipfel hinüber. Ich suchte mir eine bequeme Bülte, setzte mich und läutete. Ich läutete dir, Geliebte meines Herzens, läutete unserer Tochter, meinem Bruder, allen Freunden, deren ich mich entsann und die ich mochte, und dem einen-einzigen Freund, den mir die Stadt New York geraubt hatte. Auch den Siirten läutete ich. Aber die Siirten zeigten sich nicht. Gänse schnatterten schlaftrunken in der Ferne, ein Schneehuhn stieß einen Ruf aus und knarrte dann lange. Ich wartete. Blickte mich um. Zufällig fiel mein Auge auf einen benagten Entenbürzel … Ich saß auf einem Hügel, in dem es vier oder fünf frisch gegrabene Fuchsbaue gab! Zudem strömte plötzlich unter meinem Stiefel ein würziger Geruch auf: Wermut! Wermut meiner

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