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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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setzte sich zu allen anderen in den Passagierraum. Mit seiner weichen handgestrickten violetten Schirmmütze und der Aktentasche auf den Knien sah er aus wie ein friedlicher Rentner aus Zentralrussland, nicht wie einer, der so viele Jahre im Hohen Norden gearbeitet hatte.
    »Und wohin gehts jetzt?«, fragte ich ihn.
    »Weiß nicht«, antwortete er mit entwaffnend sorgloser Stimme. »Erst mal nach Uchta zu meiner Tochter wahrscheinlich …«
    Das zittrige »wahrscheinlich« verriet ihn: Er war zu lange weggewesen und war sich ebenfalls nicht sicher, wiedererkannt zu werden …
    Nach Kolgujew mutet einen Moskau wirklich seltsam an.
    Beim Trolleybusdepot treibt der Wind die ersten trockenen Ahornblätter über den Asphalt. Die blinden Mauern ringsum sind aufgeheizt und leblos … In der Luft eine Ahnung von Herbst … Abenddämmerung …
    Das Gras ist gelb geworden: Ich war also wirklich ziemlich lange fort.
    Wie lang?
    Erst vor unserer Wohnungstür komme ich wieder zu mir. Der Schlüssel dreht sich im Schloss, ein Schwall warmer, seit ewigen Zeiten eingesperrter Luft kommt mir entgegen.
    Die Blumen auf der Fensterbank sind vertrocknet.
    Auf dem Tisch deine Uhr. Sie steht.
    Hier war so ewig niemand mehr, dass man das Fürchten bekommt.
    Erst nachdem ich die Balkontür geöffnet und ausführlich die Wohnung begangen habe, wage ich mich in mein Zimmer. Hier ist alles unverändert, nur der Computerbildschirm ist von einer feinen hellgrauen Staubschicht überzogen.
    Ein Blatt auf dem Tisch stellt sich als Gruß von dir heraus.
    Gottseidank, alles nimmt seinen Platz ein, alles ist wiedererkennbar …
    Das Waschen meiner Expeditionsmontur ließ mich den Vorortzug verpassen, aber vielleicht wollte ich ihn gar nicht wirklich erwischen. Aus irgendeinem Grund war gerade das Alleinsein heilsam: Ich musste mich daran gewöhnen, dass Sommer war und die Nacht dunkel und man barfüßig auf den Balkon gehen konnte … Für einen Moment durchbohrte mich schneidend schmerzhaft die Erinnerung an die grenzenlosen Räume, durch die jetzt vom Meer bis zu den kahlen Sandkämmen die perlgrauen Nebel zogen, die Sonne verdeckend, um das lichte Dunkel der Nacht mit Fallen und Täuschungen, Stimmen unsichtbarer Vögel und Schatten geisterhafter Berge zu füllen … Nie flog ich ohne ein Gefühl der Erleichterung von der Insel ab, als hätte ich mich aus einer Falle befreit. Und ebenso kehrte ich nie nach Moskau zurück, ohne zu bedauern, dass ich die Tür unserer Wohnung nicht wie die Baloktür aufmachen und hinausgehen konnte in den nach allen Seiten hin weit geöffneten freigebigen und großartigen wilden Raum.
    Ich kochte mir zwei Kartoffeln und aß sie. Komischer Geschmack. Ich trank einen Kaffee, rauchte auf dem Balkon eine Zigarette und schaute staunend auf die dunkle riesige Stadt rundherum, auf den abnehmenden Mond, die Sterne am Himmel …
    Dann entdeckte ich neben dem Schrank ein Paar Slipper von dir – und begriff, dass ich zurückgekehrt war. Vorbei. Was ich diesmal an Schätzen mitgebracht hatte, konnte allmählich ausgepackt werden: eine Falkenpfote, die mir Alik geschenkt hatte, eine Schiffsglocke, eine versteinerte Muschel, die vollgeknipsten Filme, das Tagebuch …
    Morgen früh werde ich dich sehen. Im ersten Augenblick werde ich dich nicht wiedererkennen, dann werde ich begreifen, dass das Glück begonnen hat, und dann werde ich dir ein Märchen erzählen. Denn ich habe dir doch ein Märchen versprochen? Ich werde dir von einem jungen Mann erzählen, der eines Tages alles in seinem Leben ändern wollte: die ihm von einer delirierenden Wirklichkeit aufgehalsten Probleme abschütteln, seine Liebe vor der Alltagsroutine bewahren, die Welt bis zum fernsten Horizont, beinah bis zu ihrem äußersten Rand erweitern, sich selbst freimachen für die schöpferische Arbeit …
    Ich werde dir erzählen, wie ihm zuerst alles gelingt: Das ist die Geschichte des Fliehenden. Aber dann … Niemand darf wissen, was das wirklich ist: ein Buch. Nichts darüber, was dahinter steht. Aber dir, Liebste, werde ich es trotzdem erzählen. Wie das Buch eines Tages durch einen dreist hingeschriebenen Satz, eine messerscharf geschliffene Zeile streichholzgleich aufflammt – und du begreifst, dass der Zauber gelöst ist, Stammeln und Stummheit vorbei sind, dass du endlich eine Sprache gewonnen hast und das eben Geschriebene alles zuvor Geschriebene lohnt. Berauscht vom Bewusstsein der eigenen Kraft, von der Schönheit der eigenen Stimme versuchst du es

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