Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Sonne, Wermut meines Herzens, Wermut unseres Lebens (wenn so ein botanischer Existenzialismus denn möglich ist), Wermut!
Ich wusste jetzt, wo ich das Glöckchen hinterlegen musste.
Dann steckte ich mir eine Zigarette an, beobachtete, wohin der Rauch zieht, und stieg, mich an der Windrichtung orientierend, im milchigen Weiß den Hügel hinunter. Der Raum legte mir sofort einen See in den Weg, den ich noch nie gesehen hatte, das konnte ich schwören, aber jetzt war es mir schon gleich, wann und wie ich zurückfinden würde. Ich hatte ausgeführt, weshalb ich hergereist war, alles andere war unwichtig. Ehrlich gesagt hat mich einmal der Anblick eines
riesigen
Berges mit einem Altschneeplacken auf dem Abhang erschreckt – ein Berg, den es hier nicht geben durfte, aber als ich mich wieder gefangen hatte, löste er sich auf, entpuppte sich als Nebelmasse … Dann geriet ich in eine Schlucht mit einer mächtigen Schneedecke. Vor etwa zwei Wochen hatte Schmelzwasser sie entzweigeschnitten. Jetzt lag auf dem getrockneten Grund ein ertrunkenes Renkalb. Ich querte
fünf
schneegefüllte Schluchten, ohne ein mir bekanntes Merkzeichen zu sehen, nicht einmal den Stecken, den ich zur Orientierung auf diesem Gipfel zurückgelassen hatte. Dann hörte ich plötzlich im Nebel, gar nicht mehr weit, laute Schläge, die auf einem Eisenfass getrommelt wurden: Signale, die meine Wandergefährten mir entgegensandten. »Hööör euch!«, brüllte ich über den See, ohne zu wissen, ob mein Schrei durchdrang. Im großen Ganzen lag ich richtig, war nur, im Wind laufend, zu weit nach rechts geraten: denn der kam ja nicht aus Osten, sondern Südosten, ich aber hatte die ganze Zeit versucht, mit dem Gesicht genau auf ihn zuzuhalten …
In der Nacht darauf ging ich wieder zu den Hügeln. Das Glöckchen lag an Ort und Stelle.
Ja, Geliebte meines Herzens, sie sind nicht gekommen, haben es nicht mitgenommen und kein Messer aus Blaustahl oder einen Birkenrindenkorb mit Heilkräutern dafür dagelassen … Wahrscheinlich habe ich deine Gabe stümperhaft eingesetzt und zu viel Zeit damit verschwendet, alles, was mir widerfuhr, festzuhalten. Warum habe ich den Fotoapparat mitgenommen? Warum Stift und Papier in meinen Händen? Warum bin ich nicht einfach die ganze Nacht mit gespannter Aufmerksamkeit hier geblieben? Die Moskauer Ungeduld, sie hat mir die Rechnung verdorben … Gott o Gott, was für eine gruselige Professionalität, was für eine Stumpfsinnigkeit!
Hätte ich einfach nur dagesessen und gewartet, ich hätte sie gesehen. Sie waren ganz nah, glaub mir. Ganz nah. Was uns trennte, war dünner als ein Blatt Papier – und doch war es undurchdringlich. Wahrscheinlich konnte ich letztlich nicht ganz an diese Begegnung glauben. Und ließ mich deshalb von jedem Schwachsinn ablenken. Aber was ich in dieser Nacht empfand, ein solches Erstaunen und unbegreifliches Glück, das hatte ich bis dahin noch nie empfunden …
Viele Tage später in Moskau fragtest du am Ende meiner Erzählung plötzlich:
»Du sagst also, du hast Seen gesehen, die wie Kessel brodelten? Und eine wassernde Ente, Falken, Löcher im Erdboden?«
»Ja, habe ich … Und ich habe auf einem Fuchsbau gesessen!«
»Auf einem Fuchsbau?« Du lachtest. »Und du hast wirklich keine Vorstellung, wo du warst …«
Habe ich wohl wirklich nicht … 55
48 Alexander von Schrenk,
Reise nach dem Nordosten des europäischen Rußlands, durch die Tundren der Samojeden, zum arktischen Uralgebirge
, 2 Bände, Dorpat 1848.
49 Ljudmila Vasil’jevna Chomič, »Nenezkie predanija o sichirtja« [Nenzische Überlieferungen über die Siirten], in:
Fol’klor i etnografija
, Leningrad, 1970.
50 1861 gegründet, ist »Rund um die Welt« die älteste russische populärwissenschaftliche Monatszeitschrift, die sich Themen wie Geographie, Ethnographie u.ä.m. vornimmt. Der von Alexandr Pika gezeichnete Artikel, auf den Grigori Iwanowitsch Ardejew hier anspielt, erschien in der Nr. 11/1986 unter dem Titel »Jamal-Charjutti«. [Anm.d.Ü.]
51 Ivan Ivanovič Lepechin,
Dnevnye zapiski putešestvija po raznym provincijam rossijskogo gosudarstva
, čast’ 4, St. Petersburg, 1805, S. 203.
52 Auf Deutsch erschienen die Beschreibungen van Linschootens und de Veers bereits 1598; der de La Martininère’sche Reisebericht kam nur wenige Jahrzehnte nach seiner Publikation in Frankreich auf Deutsch heraus und erlebte binnen kurzem vier Auflagen: Pierre Martin de La Martinière,
Reise nach Norden / Worinnen Die Sitten /
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