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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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Äthiopien etwas entdeckte, das ungewöhnlicher war als die Entdeckungen Verlaines und die Poetik des
Trunkenen Schiffs
. Rimbaud floh nach Afrika, um nicht unterzugehen. Und verlor seine Stimme. Vielleicht stellte sich das Leben als »wertvoller« heraus als das »Schöpfertum«. Kunst und persönliches Leben sind eins; dein Leben ist auch deine Kunst. Oder – die Kunst ist ein Mittel, um höchstmögliche Lebensintensität zu erreichen.
    Ist es so?
    Religion?
    Liebe?
    Kindererziehung?
    Alles ist Kunst, alles verlangt höchste Meisterschaft. Die Kunst ist gerechtfertigt, wenn sie einem hilft, ein ganzheitlicher Mensch zu bleiben … Eine andere Rechtfertigung hat sie nicht, kein anderes Ziel …
    Mein Doppelgänger verschwand: Auf seiner Suche nach Authentizität gelangte er bis an eine für einen Künstler gefährliche Grenze, hinter der er, genau genommen, einfach auf hört, Künstler zu sein; verschluckt von der Unermesslichkeit des Lebens, bringt er schon keine Kunstwerke mehr hervor, sondern Handlungen – was extreme Könnerschaft verlangt, jedoch leider keine besonderen Vorteile verspricht. Aber ich suchte keine Vorteile. Mir blieb nichts anderes übrig, als, erfüllt von der Kühnheit meines Schattens, ins Unbekannte aufzubrechen und die Geschichte des Fliehenden zu Ende zu erzählen: die Geschichte, wie er die Angst besiegt und auf ihren Trümmern seinen Mythos erbaut, der ihm allmählich zur Zuflucht wird …

Die Flucht
    Vier Uhr morgens. Der Zug hält neben einem seit Urzeiten nicht renovierten kleinen Bahnhofsgebäude einer gottverlassenen Station, mit geübter Gewandheit wuchten Passagiere Säcke voller Kartoffeln hinunter auf den Bahnsteig. Rasselndes Atmen, Husten, Stimmen, die an mein Ohr dringen. Vor dem Fenster meines Waggons ist der Stationsname zu lesen: Petschora. Ich schnappe mir meinen Rucksack und steige aus. Nebel. Kälte. Ein winziger Platz. Eine Bushaltestelle. Aus dem Irgendwo taucht ein Bus auf, beschreibt einen Kreis, hält. Beim Einsteigen Gedrängel. Ich werde gegen die Haltestange vor dem Fenster gepresst; ich reibe die beschlagene Scheibe frei, sehe den grauen, in Nebel getauchten Platz, ein paar Gestalten, die Säcke zu drei, vier PKWs schleppen, das sich im Nebel kaum abzeichnende Bahnhofsgebäude.
    Hierher kehre ich niemals zurück. Niemals nehme ich diesen Bahnhof, um zurückzufliehen. Selbst wenn …
    Schnaufend fährt der Bus los. Aus dem Nebel des Bahnhofsvorplatzes bringt er mich noch weiter in den Nebel hinein. Ich sehe ein Sumpfgebiet, zugewuchert mit trockenem Riedgras, ein paar Fünfgeschosser und in der Ferne Metallstelzen, die etwas über den unteren Nebelsaum hinausheben.
    Die Nebelstadt: kein schlechter Anfang.
    Ich weiß
nichts
von dieser Stadt.
    Endhaltestelle. Die letzten verbliebenen Fahrgäste steigen aus, gehen in alle Richtungen auseinander, lösen sich in der milchigen Stille auf. Ich bleibe allein zurück.
    Sand. Ein Platz mit Denkmal. Lenin, umwuchert von Beifuß und Rainfarn: Gleich einem Zenmeister streckt er voller Zuversicht seinen Arm in die weiße Leere. Die Sichtweite beträgt zehn Meter. Alles bietet sich in Fragmenten dar, wie im Kino. Zwischen Zäunen schlängelt sich ein Pfad, durch die Latten schauen Brennesselblätter, hart, wie geschnitzt, Balkenwände, alte Häuser, ein Abhang. Unten muss der Fluss sein. Eine mit zerbrochenen Betonplatten belegte Auffahrt, ein Rudel schlafender Hunde auf dem Flussufer. Schwach plätschert das Wasser gegen den Steg des alten Anlegers, der mit seiner Turmform und den geschnitzten Fensterverkleidungen etwas von einem schwimmenden hölzernen Bojarenhäuschen hat oder von einem alten unförmigen Zweidecker ohne Schornstein. Laut hallen die Schritte auf dem taufeuchten Eisensteg wider. Im Wartesaal kein Mensch. Vorm Fenster unverändert der Nebel, der übers Wasser wabert. Die Kasse ist geschlossen. Wiederholt klopfe ich. Endlich geht das Schalterfensterchen auf, rahmt das abweisende Gesicht einer schlaftrunkenen Frau. Ich beuge mich zu ihr hinab und sage, dass ich gern hier übernachten würde. Was sie allerdings gar nicht gern sieht. Sie ist merklich verärgert, weil ich sie geweckt habe, und will mich nicht verstehen. Erst als ich wiederholt beteure, ich hätte die Sache vorab telefonisch mit ihrem Chef geklärt, händigt sie mir einen Schlüssel aus mit dem Hinweis, dass es eine Zweibettkajüte sei und sie mir gegebenenfalls einen anderen Gast dazulegen müsse. Im Moment ist mir alles egal. Über die eiserne

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