Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Interpretation der Figur der Síde mündet jetzt endgültig in eine Sackgasse. Der eine Zweig endet im Märchen, wo die Síde, nun zwergenhaft klein, als Elfen und Feen fortleben, deren Zauber allein spielerischen Zielen dient. Der andere Zweig führt in den Bereich des Dunklen, des Trickstertums und der Sinnestäuschung, hier bilden sie den Nährboden für eine trübe europäische Esoterik. Umgeben von einer Aureole der Entfremdung, dienen sie einem dunklen, dem Menschen unbegreif baren, vergessenen, gleichwohl heftig ersehnten Geheimnis. Ihre Erscheinungsgestalt wird verschwommen, farblich wechseln sie zunächst zu rot-schwarz, danach zu schwarz allein, dann zu rauchgrau und schließlich verschmelzen sie mit der Finsternis …
Ein einziger Lichtschimmer, eine flüchtige Rehabilitierung erfahren die Síde in der höfischen Literatur, in der Artussage, und zwar in Gestalt des »Zauberers« Merlin. Dieser trägt unverkennbar sídische Züge, weshalb nur schwer zu bezweifeln ist, dass die Síde hier einen letzten Versuch unternahmen, den Menschen die Möglichkeit eines neuerlichen Zugangs zur paradoxen Welt und einer Erweiterung des eigenen Denkens und Empfindens zurückzugeben. Aus dem Zyklus ist klar ersichtlich, dass diese Möglichkeit trotz allem immer noch offensteht. Denn König Artur, durch Merlins Klugheit und Scharfsinn im Leben zu Ruhm gelangt, wurde von ihm auch nach dem Tod nicht im Stich gelassen. Er schlummerte ein und schläft auf Avalon, der Apfelinsel (Manannáns Apfelreiches Emain?), wohin ihn seine von Merlin in den Zauberkünsten unterrichtete Schwester gebracht hat. Artur schläft, um zu erwachen und England zu vereinigen und zu retten. Aber ist hier von einer politischen Einheit die Rede? Artur, Merlins Lieblingsschüler, kann nur nach den magischen Gesetzen der Síde auferstehen für die Vereinigung des Landes und um der Welt Licht und das Volumen zurückzugeben, das zu unserer Zeit im Namen von Komfort und leichtem Gewinn verlorenging …
Die Videofassung der Erzählung um König Artus endet mit dessen Tod und seiner feierlichen Beisetzung, Merlin kommt gar nicht darin vor. Gibt es also kein Erwachen und keine Rettung? Anscheinend. Die heutige Zivilisation braucht keinen schlafenden König mehr. Das »mythologische« Bewusstsein wurde vom »historischen« abgelöst, die Zeit dadurch endgültig linear und der Raum, dem drei Dimensionen zugewiesen wurden, vermessen und zergliedert.
Die lineare und segmentierte, als Werkstatt genutzte Welt hat der Menschheit auf die essenziellen Fragen zu den Fundamenten des Lebens nicht mehr Antworten gegeben als die undurchdringliche, verschlungene Welt der Überlieferungen. Die heutige Welt balanciert in neurotischer Verfasstheit im Grenzbereich der Eschatologie. Eine Welt, die – bei aller Unbewiesenheit – seltsame Grenzbezirke von Geist und Sein einschloss, kannte in ihrer Kosmogonie keinen chthonischen Schlund: Das Thema des Weltendes lässt sich, so sehr die Wissenschaft ihm nachforscht, darin nirgends finden. Wie denn auch: Eine Welt, die solch enormes Selbstentfaltungspotential in sich birgt, kann sich selbst nicht als endlich denken.
Das Thema der Schwelle trieb in Mittelalter und Renaissance die Geister um. Leonardo da Vinci zum Beispiel widmete dem Grenzbezirk zwischen den Elementen eine umfängliche wissenschaftliche Arbeit. Darin kommt er hinsichtlich der Grenze zwischen Wasser und Luft zu einem paradoxen Schluss: dass nämlich dieser Bezirk nur ihm inhärente Eigenschaften besitzt, die von denen der beiden Elemente verschieden sind und doch Züge von diesem wie jenem aufweisen. Der Grenze eignen Begleiterfunktionen. Hier liegt eine für den Menschen der neuen Zeit heilsame Lösung. Wer sie in Betracht zieht, versöhnt sich leichter mit dem Gedanken, dass Geschichte und Mythologie Teile einer Welt sind und man nur dort hingelangen muss, wo die Elemente und Zeiten sich kreuzen, um zu spüren, dass der Rand zwischen ihnen beweglich und durchdringbar ist; dass der Raum Eigenschaften über die drei Dimensionen hinaus besitzt; dass die Zeit nichtlinear ist; dass die andere Welt uns irgendwo im Bezirk des Schlafzimmers erwartet. Oder an einer Kreuzung. Oder – wie den heiligen Brendan – auf einer Insel. Er war ein Heiliger und hochgeschätzt, glauben Sie mir, sein Porträt prangt noch heute auf den Etiketts irischer Likörflaschen.
Wir glauben an die kommerziellen Brendane so vorbehaltlos wie dereinst die Menschen an den Mythos. Dass der Glaube
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