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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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Wörter einer vergessenen uralten Sprache: Uesko, Tauli, Iona, Ide …
    Hier eröffnet sich ihnen die Welt des Schützen. Hier, in dem grünen Gefäß, auf dessen Grund die goldene Eisscheibe eines Sees ruht, ziehen wie je die Herden umher, lodern in der Dämmerung die Feuer, erzählen die Alten den Kindern von der Frau, Chada Waermi, die vor langer, langer Zeit auf einer Eisscholle an die Küste kam und als Rentierjägerin lebte, bis eines Tages jemand sie sich zur Frau nahm und sie für immer auf der Insel blieb; hier singt der kleine Iona, auf einem grünen Hügel, die großväterlichen Lieder; hier ist die Nomadenzeit noch allmächtig, die Lebensweise, in der kein Stöckchen, und sei es bleistiftklein, umsonst verbrannt werden darf, das Leben, in dem jeder Schritt, jede Geste von der Zeit geschliffen wird bis zur Vollkommenheit, zur symbolischen Figur …
    Der Schütze. Er ist kühn und jung, und ihn erwartet die herrliche Zukunft eines ungebundenen Sohnes der Natur …
    Die wundervolle bilderreiche Sprache, deren Farben im Raum des Buches mal bis zu äußerster Dichte eingedickt, dann wieder bis fast zu gänzlicher Durchsichtigkeit verdünnt sind, diese unvergleichliche Sprache der beiden Künstler bezaubert, wie es der Sprechgesang des Schamanen tut: durch Unanzweifelbarkeit.
    »Ewigkeit geht von den öden Ufern aus, wo unter violetten Torfschichten Muschel- und Gesteinsablagerungen, über Jahrhunderte zusammengepresst, sichtbar sind …«
    Fossiles Eis …
    Ewige Gefrornis …
    Ewigkeit …
    »Ewigkeit wohnt in den Kekuren. Die Inselbewohner haben vergessen, wer diese Steinzeichen errichtet hat, die von einem flachen Stein gekrönt sind, der an das Profil eines – stets dem Meer zugewandten – Menschen erinnert: eigenartige, sich in die Tundra verirrt habende Leuchttürme …«
    Die Ewigkeit, das Paradies.
    Wie viel würde ich zahlen, um den Lauf der Zeit zu verlangsamen?
    Um die helle Freude des ewigwährenden Augenblicks wie in der Kindheit zu empfinden?
    Aufwachen
.
    Wolke
.
    Gras
.
    Gott im Himmel, wovon rede ich? Wie sollte derlei käuflich sein? Hier heißt es, mit anderem als Geld bezahlen: mit einem selber …
    Im letzten Augenblick beginnt der Fliehende das eine oder andere zu begreifen. Aber er verspürt kein Bedürfnis, sich dem Schicksal entgegenzustellen. Wenngleich etwas chaotisch, verraten seine Notizen des letzten Tages eine ruhige Ergebung in das Vorhaben, das sich von einer gänzlich flüchtigen Träumerei zum kategorischen Imperativ gewandelt hat und ihn immer weiter ins Zentrum des Trichters lockt.
    Eine Aufstellung seiner Geldposten endet mit der tristen Feststellung:
Bin maximal noch zehn Tage liquide, bei katastrophal bescheidener Unterkunft …
    Weiter, ebenso ratlos:
Ärgerlich, was ich an unnützem Zeug dabeihabe, nur das Wichtigste nicht: warme Kleidung. Frage mich, ob das Zimmermädchen mir eine Büchse Fleisch geklaut hat
.
    Und noch dies:
Versuche trotzdem, mich auf die Reise vorzubereiten und einzustimmen. Habe die Stiefel getrocknet und eingewichst und mir auf dem Elektrokocher eine Buchweizengrütze zubereitet, um morgen früh und notfalls auch tagsüber etwas zu essen zu haben (den Topf mit der Grütze in Zeitung eingeschlagen, damit nichts rausschwappt, und im Rucksack obenauf gut verstaut). Die Erfahrung dieser ganzen Reise, die ungeachtet ihrer vollkommenen Sinnlosigkeit in der Stimmung ›nicht umkehren‹ verläuft, besagt, man muss mit allem rechnen. Vielleicht fliegen wir morgen, obwohl bei dem Wetter bloß ein Narr in Christo nicht krank würde …
    »Na, mein Lieber, ein bisschen die Hosen voll?«
    »Hätten wir unter den Umständen alle ein bisschen, wissen Sie.«

Die Schlaflosigkeit verweigerte hämisch der Nacht ihr Recht, und diese versuchte sich das Ihre am Morgen zu holen. Weshalb er ganz ohne Frühstück seinen Rucksack schnappen und in Korepanows betagten Soporoschez springen muss, den dieser langsam, um in den Schlaglöchern der Karre nicht den Bauch aufzuschlitzen, todsicher der Verspätung entgegenkutschiert. Aber anscheinend weiß Korepanow, was er tut: Das Einchecken ist längst abgeschlossen, der Saal leer, aber der Fliehende wird abgefertigt.
    Ein mehr als flüchtiger Blick des Grenzers hinterm Schalter auf die Dienstreisebescheinigung, dann: »Flugticket …« »Ausweis …« »Machen Sie schnell, Sie sind verdammt spät dran …«
    Der orangefarbene Mi-8 mit schwarzen Rußspuren an der Triebwerksverkleidung unterschied sich von zwei anderen

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