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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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Hubschraubern nur dadurch, dass die Tür zum Passagierraum noch offenstand. Er rannte über feuchten Beton, dann über feuchten Sand und erneut, in einer Diagonalen, über Beton. Die anderen Passagiere hatten offenbar gerade erst ihre Plätze eingenommen, aber als er ins Innere klettern will, begreift er, dass für ihn und seinen Rucksack genau kein Platz mehr ist. Er ist überzählig, ein Fremder. Er steckt den Kopf ins Innere, schiebt jemandem den Rucksack zu: »Könnten Sie den bitte durchgeben?« Die drinnen beißen an, sein Rucksack verschwindet und er kann sich hineinquetschen. Die beiden Bänke längs der Bordwand waren besetzt; in der Mitte des Hubschraubers türmten sich vom Boden bis zur Decke eine Unmenge Sachen, ein regelrechter Berg, der, wie ihm schien, jeden Augenblick auseinanderrutschen konnte. »Gehn Sie nach hinten durch«, sagte der Kopilot und zog die Einstiegstreppe hoch.
    »Entschuldigung!« Er klammerte sich so gut es ging an sämtlichen Unebenheiten der Innenverkleidung fest, aber es war so eng, dass er doch jemandem auf den Fuß trat: »Entschuldigung!« Keine Antwort: Er war überzählig, ein Fremder. An ihn Worte zu verschwenden lohnte anscheinend nicht.
    Die Tür schlug zu, die Rotoren liefen. Der Geruch von Kerosin vermischte sich in seiner Nase mit dem fremden herben Geruch der Menschen. Es waren fast nur Nenzen, aus irgendeinem Grund überwiegend Frauen und ein paar Kinder. Das Dröhnen der Rotoren hatte sie niedergedrückt, viele saßen vornübergebeugt da, mit geschlossenen Augen. Er begriff, dass der Geist der Maschine ihnen zusetzte, sie auf der Stelle schwächte. Ein Junge schlief gegen die Schulter der Mutter gelehnt. Er konnte sich die beiden ein wenig genauer anschauen: sympathische braune Gesichter, die Mutter mit Brille und Kunststoffspange im Haar, dazu eine gekaufte Häkelmütze, eine billige Kunstfaserjacke, längst aus der Mode gekommene Frühjahrsstiefel …
    Wahrscheinlich wäre eine an Ada gerichtete Frage in ihm aufgetaucht, aber da bemerkte er sich gegenüber einen Mann im Gummimantel. Das Gesicht vibrierte mit allem, was es im Hubschrauber gab, aber Himmel, was für ein Gesicht das war!
    Was war es für ein Gesicht? Seine Züge sind ihm nicht in Erinnerung geblieben, nur der allgemeine Eindruck, genau wie beim Regenmantel. Unmöglich, dessen Aussehen zu beschreiben, oder wenigstens die Farbe anzugeben. Ein Gummimantel, gelb oder beige wohl, aus dem ein sehniger roter Hals hervorstak, so von einem Tuch umschlungen, dass der Mantel gut über den nackten Körper gezogen sein konnte, denn da war etwas Schauerliches, an der alten, rissigen Regenhaut beziehungsweise dem mageren Körper, den sie umhüllte – wenn nämlich der Körper dieser Hülle entsprach, dann war es einer, der das Leben und allerlei Vernachlässigungen kannte, wie der auf den Müll geworfene und zufällig von irgendwem wieder herausgezogene Mantel … Aber das Gesicht … Die magere, sehnige Verlängerung des roten Halses. Ein gewöhnliches Gesicht, ja, schon, aber absolut
nicht von hier
, umgebildet vom unermüdlichen Werk des spiritus vini. Unablässig hat in grenzenlosen Winternächten der Dämon Alkohol an diesem Gesicht gearbeitet, hat die farblosen Augen mal mit den Strahlen des Nordlichts erhellt, dann mit grimmiger Katerschwermut bis auf den Grund ausgefroren, hat Furche um Furche das Netz aus Runzeln aufgetragen und, unzufrieden mit seinem Werk, dem ihm Anvertrauten so eine gedonnert, dass die ganze Physiognomie vom Genick bis zum Unterkiefer in Verzerrung geraten ist, und nicht nur einmal, wie das in alle Richtungen stehende rote Haar, die ungleich großen Ohren, die schiefe Nase, die gänzliche Asymmetrie sämtlicher anderer Einzelheiten dieses Gesichts es belegten, das unterm Strich … Ja, unterm Strich drückte dieses Gesicht Konzentriertheit aus, eine, wie sie mit dem Verb »festhalten« verbunden ist, und tatsächlich: eine magere rote Hand hielt einen unterm Sitz liegenden Sack fest; aber allgemeiner drückte dieses Gesicht eine Verzweiflungsunbekümmertheit aus, die man gleichermaßen für Freude wie für Wahnsinn halten konnte. Dieser Mensch ist zweifellos vorübergehend aus der Hölle entlassen worden und kehrt in die Hölle zurück – das besagte seine ganze Physiognomie derart deutlich, dass dem Fliehenden mit einemmal flau im Magen wurde, weil sie Reisegefährten waren.
    Zum Glück hob der Hubschrauber in diesem Moment endlich ab, und er stürzte Hals über Kopf in die

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