Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Blinddarmentzündung, deshalb hatten sie ihn hergebracht. Er wusste nicht, wie antworten auf die Kränkung, aber hinnehmen hat er sie auch nicht können, und da hat er sich aus dem Fenster gestürzt.
So war das. Vor langem schon.
Aber lässt sich ein durchs Herz gehender Riss flicken?
Der alte Mann senkt den Kopf, er mag uns nicht länger anschauen.
Neben der großen Satellitenantenne stießen wir auf Wiktor Michajlowitsch, den Funkstationschef, der, seine Katze auf der Schulter, in der Sonne saß. Auch er hatte sich kaum verändert: seine Miene war entgegenkommend, der silbrige Seemannsbart nicht fahl geworden. Nur aufgrund der Fragen, die er stellte – was eine U-Bahn-Fahrt kostet, wie lang unser letzter Besuch in Piter her ist, und wie die Stadt jetzt aussieht –, begriff ich, dass er beschlossen hatte zurückzugehen. Ich fragte, ob ich richtig liege.
»Ja. Für immer. Es reicht …«
Ein Hauch Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit. Fünfzehn Jahre im Hohen Norden. Fünfzehn Jahre in einer eingeräucherten Kajüte mit Blick auf eine See, die nur an wenigen freundlichen Tagen, wie dem heutigen, blau aussieht; ein halber Tanklaster Sprit und selbstgebrautes Bier, die in diesen Jahren geleert wurden hinter den undurchsichtigen Scheiben, durch die sich – Gott sei Dank! – weder die Leute noch der Müll auf dem Strand hier klar erkennen lassen; das Funkgerät; die greenwichdomestiziert tickenden Uhren; die längst aus der Produktion genommenen, nirgendwo sonst mehr überlebenden Radio- und Fernsehmodelle …
Das war alles, was er besaß, aber es ist doch nicht seine Zuflucht geworden in den Jahren der langsamsten Drift auf der Welt …
»Übrigens ist es egal«, sagte Wiktor Michajlowitsch mit müdem Lächeln und gab unsere Telegramme durch.
Es ist beschlossene Sache, er will zurück in seine Stadt, aus der er einst fortgegangen ist. Aber wie will er da hingelangen? Diese Stadt gibt es ja nicht mehr …
Nun, natürlich, natürlich, in einem gewissen Sinne … Er versteht, aber irgendwie wird er sich zurechtfinden, eingewöhnen …
Als Wiktor Michajlowitsch Kolgujew verließ, packte er ein paar Sächelchen in eine Kiste, die ihm nachgeschickt werden sollte, sobald er Geld überwies. Bei meinem dritten Aufenthalt auf Kolgujew lagen die Sachen noch immer auf der Post. Michajlytsch hatte nichts überwiesen. Wo ist er jetzt? Was ist aus ihm geworden? Ich hoffe sehr, dass er Petersburg trotz allem wohlbehalten erreicht hat, die Wassiljewski-Insel mit ihrer Ostspitze, die sich in den letzten hundert Jahren ja doch nicht gar so sehr verändert hat – und dass die Dinge aus seinem früheren Leben ihm, wie das häufig passiert, einfach nicht mehr notwendig erschienen …
Nach einer Runde durchs Dorf kehrten wir zu Grigori Iwanowitsch zurück, der seinen kleinen Schlitten fertig hatte und jetzt – dank seiner gutmütig-gedrungenen Statur ein wenig wie Winnie the Pooh aussehend – an der Steilkante hockte und sich mit einem mir unbekannten Mann unterhielt, der ein Glas und eine Flasche Spiritus – bestimmt eine geklaute, denn er kippte sie allzu flott – in den Händen hielt. Erstaunt stellte ich nach kurzem Zuhören fest, dass die beiden erörterten, wie im Einzelnen der Sohn des Mannes gestorben sein mochte, ein Junge von gut zwanzig Jahren, der letzten Sommer bei dichtem Nebel mit dem Motorboot an den Koschki vorbei ins offene Meer hinausgeschossen war. Solange das Benzin reichte, hat er wahrscheinlich große Kreise gezogen, konnte aber das Ufer einfach nicht finden. Es trieb ihn in Richtung Kanin-Halbinsel ab, in die Tschjoschskaja-Bucht. Im August stieß dann ein Schiff auf das Boot. Der Junge war tot. Seit einer Woche etwa. Zwanzig Tage hat er auf dem Meer durchgehalten. Rätselhaft, was er getrunken hat. Gegessen hat er seine Laufschuhe, die aus Leder waren. Gestorben ist er an Unterkühlung …
Am Ufer über dem Meer mit Grigori Iwanowitsch verdünnten Sprit trinkend, erinnerte sich der Vater all dessen ohne sichtbaren Kummer. Was ihn mehr frappiert hatte, waren die vielen Toten im Leichenschauhaus von Archangelsk, wohin er gerufen worden war, um seinen Sohn abzuholen.
Vielleicht verspürte er ja wirklich keinen Kummer, dieser Vater. Zumindest gab es damals auf Kolgujew nicht wenige Väter, die wahrlich keine Chance hatten, sich am heldenhaften Mut ihrer Söhne zu erfreuen. Womöglich wünschten sie ihnen ja eher den Tod als diese Schmach, in der sie Tag für Tag versanken, diese Kinder des
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