Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
in Ewigkeit, Amen.
Und trotzdem erinnere ich mich nicht an unser Frühstück.
Ich erinnere mich, dass der Himmel bedeckt war. Alik kam und sagte, das Motorboot sei startklar. Ich erinnere mich nicht, ob es geregnet hat oder nicht. Wahrscheinlich eher nicht, denn wenn ja, dann hätte ich irgendetwas behalten: wie der Wind die Tropfen auf dem Feld der See aussät und sie von überallher in die Höhlung von Kreisen fallen, die auf dem Wasser auseinanderlaufen; oder, sagen wir, das Geräusch der auf die Kapuze trommelnden Tropfen; oder die
Nässe
des Gesichts, wenn du eine Stunde läufst, und noch eine, und du dich vor dem Regen nirgendwohin in Sicherheit bringen kannst, und sich das Gesicht versteift, besonders die Lippen, und es regelrecht stumpf wird, dem Leiden gegenüber gleichgültig – ich habe das ein Jahr später auf Nowaja Semlja erlebt –, aber damals, da hat es wohl nur so ausgesehen, als würde es jeden Moment losgehen. Doch dann hat es erst nachts geregnet, nachdem es zuvor für drei Stunden aufgeklart hatte.
Ich erinnere mich, dass auf dem Weg vom Hotel über den steilen Pfad die Böschung hinunter zum Meer mir der Rucksack gleich sehr schwer vorkam, aber ich schleppte ihn zum Boot, setzte ihn ab und entschied, dass es schon gehen wird
irgendwie
.
Wir hatten Flut, die See war trüb, das Boot lag direkt am Strand. Wir nahmen uns gegenseitig auf, erinnere ich mich: Wir setzten uns mit unseren riesigen Rucksäcken ins Heck – harte, unbeugsame Kerle mit höchst bedeutungsvollen Gesichtern … Das Ganze ist von einer schon wieder verzeihlichen Banalität.
Das Foto von mir machte Sascha Ardejew, unser Bootsführer und Fährmann – ich spannte den Apparat, er drückte ab. Er selbst wollte nicht aufgenommen werden: Seine Stimmung war – anders als die unsere – demutsvoll bis zur Selbsterniedrigung; diese Stimmung ist die geistige Krönung des Katzenjammers, insofern es ein solch schamvoller Blick auf sich selbst aus dem Abstand ist, wie er der überwiegenden Zahl der Menschen aus unerschütterlichem boshaftem Stolz grundfremd ist.
Ich nahm Sascha später am Bootssteuer auf; auch dieses Foto gibt eine Verlegenheit preis, die sein Gesicht zutiefst anrührend machte: als habe nicht ein Objektiv ihn fixiert, sondern das Auge Gottes, und er sei im Angesicht dieses Auges verzagt und schwach geworden ob seiner geringen menschlichen Vollkommenheit. Sascha, der Mann Gottes. Als ich das nächste Mal auf die Insel kam, war er schon tot – dabei war er ein Jahr jünger als ich …
Logischerweise müssen wir dann die Rucksäcke verstaut und das Boot vom Strand weggezogen haben, müssen hineingesprungen sein, müssen uns mit einem letzten Ruderhieb abgestoßen haben … Dann muss Sascha den Anlasser angerissen haben, eine graublaue Wolke muss den im Leerlauf arbeitenden Motor eingehüllt haben und schließlich das ganze Boot, das einen großen Bogen beschreibt …
An all das erinnere ich mich nicht.
Woran ich mich erinnere: dass das Wasser gelb war.
Und sich leicht bewegte, solange wir noch nicht hinter der Koschka waren.
Die sanften Wellen des regelmäßig atmenden Ozeans.
Ich erinnere mich an meine Angst, die mit dem Abstand zum Ufer wuchs: eine ziemliche Entfernung doch, bestimmt ein, zwei Kilometer, rundherum nichts als Wasser, gelb, kalt, zwar noch nicht die richtige See, aber ja doch tief, dazu der Wellengang, wie, wenn was passiert …
Was?
Keine Ahnung, aber wenn – dann schaffen wirs nicht schwimmend bis an Land.
Weder das Dorf noch die Küste generell waren zu sehen, als wir uns der
Ob
näherten. Ich erinnere mich, dass Alik fragte:
»Wie wärs mit einer Frage für das Große Samstagabendquiz?«
»Die da lautet?«
»Wo befindet sich heute das berühmte Dieselelektroschiff
Ob
, einst der Stolz der sowjetischen Polarflotte mit seinen Fahrten auf sämtlichen Routen des Nordpolarmeers und bis hinunter zur Antarktis?«
Oder hat er mir diese Frage am Abend vorher gestellt, als wir auf den Hotelstufen saßen und rauchten?
Aus der Nähe machte das gewaltige, zweieinhalb Kilometer vor der Inselküste in eine Sandbank eingewachsene tote Schiff einen derart grandiosen Eindruck, dass meine Versuche, es ins Bild zu fassen, sich als lächerlich entpuppten: Festgehalten wäre einfach das rostige Schiff, aber, Allmächtiger, wie sollte man alles darumherum mit in den Rahmen zwängen?! Die unter der geschwärzten Bordwand leise glucksende See, der rostige Schatten auf dem gelben Wasser, das wehmütige,
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