Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Müßiggangs und der Zeitlosigkeit, die, aus der Vergangenheit herausgerissen, keine Zukunft gefunden hatten und blind im Deliriumswahn der Welt umherirrten …
Alik traf gegen Abend ein, so gegen fünf. Ich sah ihn schon von weitem auf der Hoteltreppe sitzen, eine Papirossa zwischen den Lippen. Als er mich wahrnahm, blickte er mir herausfordernd in die Augen, lächelte.
»Ich wusste, du würdest irgendwann dich wieder hier rumtreiben kommen …«
Nun ja, mein Traum hatte mich nicht getrogen. Wir kannten einander besser, als man glauben mochte, und freuten uns, dass alles genau so kam, wie jeder von uns es wollte …
Tolik hatte ihn in einem Balok am Sobatschje-Bach aufgestöbert, wo Alik sich zum Morgen hin ein wenig aufs Ohr gelegt hatte, nachdem er in der Nacht seine fünfzig Kilometer in der Tundra gelaufen war, um Fuchsbauten zu kontrollieren – für später.
In jenem Sommer war Alik voller Ausdauer und Kraft. Und voller Hoffnungen: Er und Tolik hatten gerade ans Wehrkommando geschrieben mit der Bitte, eingezogen zu werden, irgendwohin an die tadschikische Grenze zu Afghanistan, wo es gefährlich war, wo ihre Ausdauer, ihr Wagemut, ihre Fähigkeit, mit jedem Schuss zu treffen und jedes Geräusch zu hören, doch zu etwas nütze sein mussten. Gab es denn viele in der Armee, die weder Erschöpfung, noch Hunger, noch Angst kannten?
Ja, sie waren bereit zu töten, um die fiktiven Grenzen ihres nicht mehr existierenden großen Vaterlandes zu verteidigen – jedenfalls wollten sie nicht hier zugrunde gehen an Ausweglosigkeit, inmitten des Menschengestanks.
Sie glaubten, vor ihnen liege die Zukunft.
Sie lebten wie Soldaten, ohne Frauen, und bereit, gleich morgen beim ersten Ruf mit vollem Marschgepäck auszurücken.
Mehrmals meldeten sie sich freiwillig.
Nie kam von irgendwem eine Antwort.
Nach dem in Reglosigkeit verbrachten Tag trieb es Petka und mich in der Nacht ans Meer. In der Nacht – selbst einer weißen, wenn die Tagesfarben ein wenig auskühlen und über allem Stille liegt – verändert sich alles unmerklich, und die Insel wird wahrlich schön. Und vor uns her läuft – kalte Schlange der den Uferstreifen lautlos bespielenden Woge – unsere vorwegnehmende Begeisterung. Dampf steht über dem Wasser der Flussmündung. Das sich auf den Sonnenuntergang öffnende Land mit den kaum über die flache Ebene ragenden fernen Hügelkuppen und darüber das sich aus dem Himmel ergießende gelbe Licht – all das ist von einer solchen Schönheit, dass man … was? – schweigen möchte, schreien? Nein, einfach, es sehen. Unverwandt betrachten.
Wir sind auch dafür hierher gekommen.
Das gibt es nirgendwo sonst, nur hier, an dieser unwirtlichen Küste: ein goldener Fluss, der in einem goldschimmernden Bett aus blauem Lehm fließt.
Während unseres Gangs war das Wetter umgeschlagen. Der Himmel trübte sich ein, es wurde wärmer. Ins Hotel kommen wir befallen von Mücken zurück, wie bespritzt mit lebendig wimmelnder Moorasche. Aber auch dafür sind wir hergekommen.
13 Kleiner Fischkutter ohne Auf bauten.
14 In der UdSSR waren die Faktoreien in den abgelegenen Gebieten staatliche Handels- und Vorsorgungspunkte, wo die Jäger die Pelze ablieferten und sich mit Jagdausrüstung und Dingen des täglichen Bedarfs versorgen konnten. [Anm.d.Ü.]
15 Mittlere medizinische Fachkraft, die an abgelegenen Orten die medizinische Grundversorgung sicherstellt. [Anm.d.Ü.]
Achtzehn Zeilen
Ich erinnere mich an fast nichts.
Ich erinnere mich nicht, ob wir frühstückten oder nicht. Wir müssen natürlich gefrühstückt haben; meine innere Unruhe erlaubt es mir gar nicht, den Tag ohne Frühstück zu beginnen. Kein Mittagessen geht, notfalls auch kein Abendessen, aber kein Frühstück – das geht zu weit. Mein Frühstück ist mir heilig. Vielleicht – ja sogar höchstwahrscheinlich – messe ich einigen Löffeln Haferbrei und einer Tasse Kaffee mit Sahne übermäßig große Bedeutung bei, aber Teufel noch mal, ich geb keinen roten Heller auf einen Tagesanbruch ohne wenigstens einen Kaffee und einen Happen Brot, denn so ein Tag bringt die übelsten Gefühle hervor, derer ich überhaupt fähig bin. Weshalb ich übrigens auch annehme, dass im Vaterunser mit dem täglich Brot vor allem das Frühstück gemeint ist. Ich wage zu behaupten, zumindest mit Blick auf mich: Ohne Frühstück ist es unmöglich, das Reich Gottes zu schauen; gib mir mein täglich Frühstück, Herr, und erlöse mich von dem Bösen, jetzt und immerdar, und
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